Dienstag, 15. September 2020

Kurznachrichten Libyen - 11.09.2020

Libyen. Verhandelt wird in Marokko, Beschlüsse fallen in der Schweiz, Sarradsch-Delegation in Kairo

Angelika Gutsche  

Optimismus bei Gesprächen im marokkanischen Bouznika - dazu kritische Stimmen

11.09.: In dem gemeinsamen Schlusskommuniqué des Hohen Staatsrats in Tripolis und des Parlaments heißt es, dass die Sitzungen im marokkanischen Bouznika in einer positiven Atmosphäre verlaufen seien. Explizit wird in der Erklärung darauf hingewiesen, dass ausländische Einmischung zur Verschärfung des Konflikts in Libyen beigetragen habe.
In einer Pressekonferenz erklärte der marokkanische Außenminister Nasser Bourita, dass die Libyer selbst am besten in der Lage sind, die Interessen ihres Landes zu vertreten und für Frieden und Stabilität zu sorgen. An die Delegierten gewandt sagte er: „Sie haben bewiesen, dass die Libyer in der Lage sind, auch ohne ausländische Hilfe Lösungen für ihre Probleme zu finden". In den innerlibyschen Gesprächen ging es um die Bestimmung klarer Standards zur Korruptionsbekämpfung und zur Beendigung der Spaltung der libyschen Institutionen. Abdul-Salam al-Safrani, ein Führer der Muslimbruderschaft, sagte, es sei bei der Neuvergabe von Posten bei sieben (von zehn) der libyschen Institutionen eine Einigung erzielt worden.
Die Gespräche werden fortgeführt.
https://libyareview.com/?p=6418
https://almarsad.co/en/2020/09/09/al-safrani-sovereign-positions-should-be-filled-geographically-and-demographically/

Dagegen erklärte der Vorsitzende des Hohen Staatsrates, Khaled al-Mishri, Mitglied der Partei für Gerechtigkeit und Aufbau der Muslimbruderschaft (JCP), die Treffen in Marokko seien Konsultationen und keinesfalls der Beginn eines Dialogs im engeren Sinne des Wort.
https://almarsad.co/en/2020/09/09/al-mishri-moroccos-meetings-are-mere-consultations-not-dialogue/

Innerhalb der 'Einheitsregierung' in Tripolis tobt ein Machtkampf zwischen Sarradsch und dem Innenminister und Moslembruder Fatih Bashagha, der von den Misrata-Milizen unterstützt wird. Deshalb dürfte es schwierig sein, Verhandlungsergebnisse in die Tat umzusetzen.

Und auch der radikale Kleriker Sadiq al-Ghariani meldet sich zu Wort und hält die Marokko-Gespräche für Augenwischerei und eine abgekartete Sache der Vereinten Nationen, denen daran gelegen ist, den Krieg in Libyen fortzusetzen. Kein Problem in Libyen würde damit gelöst.
https://almarsad.co/en/2020/09/10/gharyani-dialogue-in-morocco-is-useless-and-un-wants-to-perpetuate-conflict/

Treffen von "wichtigen libyschen Interessengruppen" plus UN-Delegation in der Schweiz unter Ausschluss von Vertretern aus dem Osten

Die sogenannten Vertreter der „wichtigsten libyschen Interessengruppen“, darunter die Muslimbruderschaft, haben in den vergangenen drei Tagen ein Treffen in Montreux, Schweiz, abgehalten.
Das Treffen wird als Antwort auf das Hoffen der Libyer nach Stabilität und ein menschenwürdiges Leben sowie auf die sich verschlechternde wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Situation des libyschen Volkes dargestellt und wurde vom sogenannten Zentrum für humanitären Dialog (HD) und in Anwesenheit der UN-Sondermission für Libyen (UNSMIL) abgehalten. Es sollte als „Vorbereitungsphase für eine umfassende Lösung" dienen, (d.h. es stellt den Anfang einer weiteren Übergangsphase dar). Die Teilnehmer wollen - und zwar ohne Vertreter aus dem östlichen Libyen - bestimmen, wie die zukünftigen politischen Dialoge unter der Schirmherrschaft der UN-Sondermission in Libyen auszusehen haben. Hierzu wurden sieben Punkte verabschiedet:
(Frage: Wer ist im Zentrum für humanitären Dialog vertreten und wie werden dessen Mitglieder berufen?)

1. Die „Vorbereitungsphase für eine umfassende Lösung“ ist ein Zeitraum, um die geeigneten Bedingungen für die Abhaltung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innerhalb von achtzehn Monaten auf der Grundlage einer vereinbarten Verfassungsregel zu schaffen.
(D.h. Wahlen wiederum auf den Nimmerleinstag verschieben und den Status quo aufrecht erhalten!Gerade die Einigung auf eine Verfassung vor Wahlen dürfte in der Praxis kaum möglich sein. Ein echter Verfassungsentwurf müsste aus demokratisch gewählten Mehrheiten heraus zustande kommen.)
2. Umstrukturierung der Exekutivbehörde, um einen Präsidialrat aus einem Präsidenten und zwei Abgeordneten sowie eine daraus zu bildende unabhängige Regierung der nationalen Einheit zu bilden.
3. Mitglieder des Präsidialrates (Tripolis) und dem Vorsitzenden der 'Einheitsregierung' (Tripolis) wurden durch das Libysche Komitee für den politischen Dialog ausgewählt und beauftragt, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, die die Einheit Libyens und seine geografische, politische und soziale Vielfalt berücksichtigt und Vertrauen gewinnt.
(Wer gehört diesem Libyschen Komitee für den politischen Dialog an? Wiederum nur Teilnehmer aus Tripolis?Wo sind die Vertreter des libyschen Parlaments und der LNA?)
4. Bewertung und Weiterverfolgung der Arbeit der Exekutivbehörde und der regelmäßigen Wahrnehmung ihrer Aufgaben durch den Libyschen Ausschuss für den politischen Dialog.
5. Das Parlament und der Hohe Staatsrats sollen aufgefordert werden, sich innerhalb angemessener Fristen auf die souveränen Positionen und den Wahlprozess zu einigen.
(Was sind angemessene Fristen?)
6. Während der „Vorbereitungsphase für eine umfassende Lösung“ und zur Wahrnehmung ihrer souveränen Aufgaben und sobald die Sicherheits- und Logistikbedingungen erfüllt sind, Verlegung der Institutionen der Exekutive und des Parlaments nach Sirte.
(Wer bestimmt, wann die Bedingungen erfüllt sind? Und nach der Vorbereitungsphase?)
7. Es soll die Wichtigkeit der nationalen und sozialen Versöhnung betont werden, indem illegale Inhaftierung und politische Verurteilung beendet werden, das Amnestiegesetz für politische Gefangene aktiviert wird, die sichere Rückkehr der Deportierten und Vertriebenen und das Recht auf Wiedergutmachung ohne große Rechtsstreitigkeiten gewährleistet werden.
Der Hoffnungen auf eine baldige Wiederaufnahme des Ausschusses für den politischen Dialog wurde Ausdruck gegeben. Die internationale Gemeinschaft müsse ihre volle Verantwortung für die Gewährleistung der Stabilität in Libyen und das Engagement aller libyschen Interessengruppen für die Resolutionen des Sicherheitsrates zur libyschen Souveränität und die Unterstützung der libyschen Politik übernehmen.

Gerade das Engagement der sogenannten 'internationalen Gemeinschaft' seit Februar 2011 ist das Problem in Libyen!
Dieses Treffen genau dann abzuhalten, wenn in Marokko die Gespräche zwischen Vertretern des Parlaments und dem Hohen Staatsrats laufen, ist schon sehr dreist.
Es darf davon ausgegangen werden, dass wiederum solche Bedingungen und Forderungen an die Vertreter des Parlaments und der LNA gestellt werden, die ohne Selbstverleugnung unmöglich zu erfüllen sind, so dass der Status quo immer weiter aufrechterhalten wird.

Delegation der 'Einheitsregierung' in Kairo

Eine hochkarätige Delegation der 'Einheitsregierung' ist zu Gesprächen im ägyptischen Kairo eingetroffen, das bekannter Weise ja deren Gegner, die Libysche Nationalarmee (LNA), unterstützt.
https://twitter.com/LibyaReview/status/1303344640502923264
Tatsächlich konnte die LNA Tripolis nicht erobern und die Türkei nicht Sirte, d.h. die USA hat erfolgreich den Status quo aufrecht erhalten.

+ 09.09.: Der Sprecher der LNA al-Mismari sagte hierzu, dass die Delegation der 'Einheitsregierung', die Kairo besucht, nicht befugt sei, die Gesprächsergebnisse von Kairo in Libyen in die Tat umzusetzen, da den Milizen, insbesondere in Misrata, keine Lösungen aufgezwungen werden könnten. Sarradsch habe aus Angst um seinen Posten diese Delegation nach Kairo entsandt.
Laut Mismari bedeute der Waffenstillstand keinen Friedensschluss. Die Milizen müssten ihre Waffen der LNA übergeben. Die LNA sei auch gegen jeden Angriff von Milizen der 'Einheitsregierung' gewappnet.
https://almarsad.co/en/2020/09/10/al-mismari-gnas-militias-are-moving-towards-jufra-and-lna-is-ready/

Parlamentspräsident Aguila Saleh soll von EU-Sanktionsliste gestrichen werden

09.09.: Die Europäische Union plant, den libyschen Parlamentspräsidenten Aguila Saleh von ihrer Sanktionsliste zu streichen. Damit soll eine Friedenslösung in Libyen erleichtert und gleichzeitig die Bedeutung der EU bei den Verhandlungen herausgestellt werden.
Seit 2016 steht Saleh auf der Sanktionsliste, da ihn die EU beschuldigt, Friedensbemühungen zu behindern. Allerdings haben sich Russland und Ägypten bemüht, das international anerkannte und demokratisch gewählte libysche Parlament stärker in die Friedensverhandlungen einzubinden. Auch Frankreich, das in starker Rivalität zu Deutschland und in Libyen auch zu Italien steht, unterstützt das Parlament und die LNA. Nun wollen alle beteiligten EU-Staaten, insbesondere Italien, Frankreich und Deutschland, ihre Einheit unter Beweis stellen. Allerdings will Zypern alle EU-Sanktionsentscheidungen, die einstimmig getroffen werden müssen, blockieren, bis nicht auch die Türkei wegen ihrer Ölbohrungen vor der zypriotischen Küste sanktioniert ist.

Aufgehoben werden sollen auch die Sanktionen gegen Nouri Abusahmain (ehemaliger Präsident des libyschen Generalkongresses in Tripolis) sowie von Khalifa al-Ghwell (ehemaliger Premierminister der Regierung von Tripolis).

Sowohl das Parlament und dessen Präsident Aguila Saleh als darauf folgend auch die 'Einheitsregierung' unter Sarradsch hatten sich für einen Waffenstillstand ausgesprochen.
http://en.alwasat.ly/news/libya/294985

Saleh war in letzter Zeit an allen wichtigen Verhandlungen beteiligt, auch wenn die westliche Presse immer nur vom "Warlord Haftar" und nie vom gewählten und anerkannten Parlament und dessen Präsidenten gesprochen hat. Dabei hatte eben dieses Parlament die LNA zur libyschen Armee und Haftar zu ihrem Kommandanten erklärt. Doch statt demokratische Prozesse zu unterstützen, zog es die EU vor, die islamistischen Kräfte und Moslembrüder zu stärken, die sich nur durch brutale Gewalt in Tripolis an der Macht halten können. Soweit zum Demokratieverständnis der EU!
Die EU will um jeden Preis bei der Regierungsbildung in Libyen ihren Einfluss geltend machen. Sollen doch zukünftig alle Verträge, Öl- und Gasexport, sowie EU-Importe und Aufbauprojekte, von einer willfährigen libyschen Regierung mit den Staaten geschlossen werden, die für die Zerstörung des Landes 2011 verantwortlich waren. Der Nato-Krieg gegen Libyen muss sich doch endlich lohnen und die Rückkehr der Kolonialisten ermöglichen.

'Einheitsregierung' und internationale Gemeinschaft nicht an Abhaltung von Wahlen interessiert

09.09.: Der Leiter der Hohen Nationalen Wahlkommission (HNEC) in Libyen, Emad ad-Din as-Sayeh, ist der Meinung, dass die 'Einheitsregierung' versucht, die Arbeit der Wahlkommission zu unterlaufen. Obwohl das libysche Wahlgesetz die politische Unabhängigkeit der Wahlkommission vorsehe, treffe die 'Einheitsregierung' die Entscheidungen bezüglich der Höhe des Budgets und des Personals und bestimme somit über deren Arbeit. Etatkürzungen hätten zu Personalkürzungen geführt, es würden aber mindestens noch 70 qualifizierte Mitarbeiter benötigt, um die Wahlzentrale und 24 Verwaltungsbüros zur landesweiten Vorbereitung der nächsten Wahlen ausstatten zu können. Jedes Jahr sei das Budget weiter gekürzt worden, dies sei eine systematische und willentliche Schwächung der Wahlkommission. Laut Sayeh unterstütze die 'Einheitsregierung' vordringlich Kommunalwahlen, während Gelder zur Information der libyschen Wähler über Parteien und Kandidaten fehlten. Wahlen müssten den internationalen Mindestanforderungen genügen, doch die 'Einheitsregierung' komme den beim Skhirat-Abkommen eingegangenen Verpflichtungen nicht nach. Sayeh über die Wahlbehörde: "Wir sind nicht gespalten und haben gute Beziehungen zu allen politischen Parteien." Doch wenn das Budgets nicht erhöht wird, werde die Wahlkommission ihre Arbeit einstellen und sich an das Parlament wenden, um über das weitere Bestehen der Wahlkommission zu entscheiden."
Sayeh hält es für ausgeschlossen, dass die Marokko-Treffen zwischen dem Parlament und der 'Einheitsregierung' tatsächlich zu Wahlen führen werden, denn der UN-Sondermission für Libyen und der internationale Gemeinschaft kämen die zu erwartenden Ergebnissen sehr ungelegen, da diese Kräfte andere Ziele als die Sicherheit und politische Stabilität in Libyen verfolgen. Sayed: „Ich glaube nicht, dass in naher Zukunft Wahlen stattfinden werden; das geht aus den Treffen mit verschiedenen internationalen Akteuren hervor. In den Erklärungen von Parlamentspräsident Aguila Saleh und des Präsidialrates wurde vereinbart, in eine vierte Übergangsphase einzutreten, in der Verfassungsfragen entschieden werden, um dann dauerhafte Stabilität zu erreichen, in der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden können. Viele Parteien schlagen ein Verfassungsreferendum vor. Aber welche Verfassung? Die Verfassung der Konstituierenden Versammlung von Libyen ist umstritten und die Erklärung von Saleh ist klar: Bildung eines Ausschusses zur Überprüfung der Verfassung oder Erstellung eines neuen Verfassungsentwurfs."
As-Sayeh unterstützt die Einführung einer E-Card für die Wahlen: "Die kommenden Wahlen werden eine sehr hohe Wahlbeteiligung und einen starken Wettbewerb aufweisen. Deshalb wollten wir u.a. einer Karte mit dem Fingerabdruck, den persönlichen Daten und dem Bild des Wählers erstellen. Nur Besitzer dieser E-Card können wählen".
https://almarsad.co/en/2020/09/09/al-sayeh-gna-undermines-the-elections-commission-because-it-fears-elections/

Verschiedenes

+ 11.09.: Auch in Bengasi fanden Demonstrationen gegen die sich immer mehr verschlechternden Lebensbedingungen statt. Dabei wurden Straßen blockiert und Reifen in Brand gesetzt.
https://www.addresslibya.co/en/archives/58869

+ Die türkische Regierung wird auf Twitter beschuldigt, nicht nur mit dschihadistischen Organisationen wie dem IS zusammenzuarbeiten, sondern selbst solche Terrororganisationen zu gründen. Dazu sei in der Region Aleppo nahe der türkischen Grenze die Hamza-Miliz gegründet worden, angeblich um gegen die Regierung Assad in Syrien zu kämpfen. Allerdings sei dabei nur der Name arabisch, denn ein Türke sei zum Kommandanten ernannt worden, von dem fälschlicher Weise behauptet wurde, er sei Syrer, der von der syrischen Armee übergelaufen ist. Tatsächlich handle es sich um Seif Bulad Abu Bakr, den ehemaligen IS-Kommandeur in der al-Bab-Region und jetziger Kommandeur der Hamza-Miliz. Fotos belegen diese Beschuldigung.
https://twitter.com/GAITAMIMI1/status/1303733723741868034?s=20

+ 08.09.: Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte gab bekannt, dass die Türkei den Sold für syrische Söldner von 2000 auf 800 US-$/Monat gesenkt hat. Es seien auch etliche Kämpfer nach Syrien rückgeführt worden. Von den insgesamt 18.000 nach Libyen verbrachten Söldnern seien etwa 7.000 nach Syrien zurückgekehrt.
https://libyareview.com/?p=6350

+ Thomas Pany auf Telepolis: "US-Kriege seit 9/11: Mindestens 37 Millionen Flüchtlinge", darunter 1,2 Millionen Libyer (das entspricht 19% der Vorkriegsbevölkerung). Hierbei handelt es sich um "konservative Schätzungen".
Pany: "Die Angst vor Angriffen, die Zerstörungen der Wohnungen, das Schwinden von Arbeitsmöglichkeiten, von Zugängen zu Nahrung, zu Schulen und Krankenhäuser sind brutale, hässliche Konsequenzen von Kriegen."
https://www.heise.de/tp/features/US-Kriege-seit-9-11-Mindestens-37-Millionen-Fluechtlinge-4889620.html
Da sich die Grünen als Kriegspartei andienen und auch den Nato-Krieg gegen Libyen freudig begrüßten, sind sie für alle, die sich einer Friedenspolitik verpflichtet fühlen, unwählbar. Es bleibt zu hoffen, dass die Linke nicht den gleichen Weg von der Friedens- zur Kriegspartei einschlägt.

 11.09.2020

 

 

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