04.12.2015
| FREITAG
Lehren aus Libyen: Wie man nicht interveniert
Kriegseintritt. Die
Vierteljahreszeitschrift für Internationale Sicherheit veröffentlichte im Sept.
2013 unter dem Titel „Lessons from Libya: How Not to Intervene“ eine Harvard-Studie.
Ein Blog-Beitrag von
Freitag-Community-Mitglied Angelika
Gutsche
Die Studie von Professor Alan J.
Kuperman[1]
stellt ein vernichtendes Zeugnis des Libyen-Einsatzes der Nato aus. Es drängen
sich Parallelen zum Krieg in Syrien auf: Mit Hilfe der russischen Luftschläge
in Zusammenarbeit mit der syrischen Armee ist es gelungen, die
dschihadistischen Kräfte von ISIS bis al-Kaida – eine freie syrische Armee ist
ja nicht oder nicht mehr vorhanden – zurückzudrängen. Weite Gebiete sind
befreit, der Sieg der syrischen Armee steht in Kürze bevor. Das würde bedeuten,
das Land wäre stabilisiert, es könnten Wahlen abgehalten werden, Flüchtlinge
zurückkehren, der Wiederaufbau könnte beginnen. Diesen Sieg kann der Westen
nicht zulassen. Assad muss weg, ein Regime-Change muss her. Aus diesem Grund
greifen jetzt auch Frankreich, Deutschland und Großbritannien
völkerrechtswidrig in den Krieg in Syrien ein und bomben was das Zeug hält.
Gerne auch die nächsten zehn Jahre, wenn dies auch weiteres Leiden, Krieg,
Vertreibung und Tod für die Zivilbevölkerung bedeutet. Hat der Westen nichts
gelernt? Doch, er weiß leider genau was er tut. Unter dem Deckelmäntelchen des
„Kampfs gegen den Terror“ wird ein Land destabilisieren, um einen Regime-Change
zu erzwingen. Richtig gefährlich wird die Situation dadurch, dass in diesen
Konflikt auch Russland im Spiel ist.
Den Libyen-Krieg des Jahres
2011 bewertet Prof. Kuperman 2013 wie folgt :
Die herkömmliche Ansicht über den Kriegsgrund ist falsch. Die
Aufstände 2011 waren zu keinem Zeitpunkt friedlich, sondern von Anfang
bewaffnet und gewalttätig. Muammar al-Gaddafi zielte nie auf Zivilisten oder
setzte unterschiedslos Gewalt ein. Obwohl der Kriegseintritt durch humanitäre
Impulse ausgelöst wurde, war das Hauptziel der Nato nicht der Schutz libyscher
Zivilisten, sondern vielmehr der Sturz des Gaddafi-Regimes, wobei in Kauf
genommen wurde, den Schaden für die Menschen in Libyen zu vergrößern.
Die Nato-Einsätze verlängerten die Konfliktdauer um das Sechsfache
[A.d.Ü.: Die Konflikte in Libyen halten
bis heute an und haben sich seit Mitte 2014 noch mehr verschärft]
und es kamen siebenmal mehr Menschen durch sie zu Tode, während sich
gleichzeitig Menschenrechtsverletzungen, menschliches Leid und islamischer
Radikalismus verschärften. Wie die Vereinten Nationen und Amnesty
International dokumentierten, ging im Februar 2011 bei Ausbruch von Unruhen in
den vier libyschen Städten Bengasi, al-Baida, Tripolis und Misrata die Gewalt
in Wirklichkeit von Anfang an von den Protestierenden aus. Zwar ging die
Regierung militärisch dagegen vor, griff aber niemals Zivilisten an oder setzte
unterschiedslos Gewalt ein, wie die westlichen Medien behaupteten. Die
damaligen Pressemeldungen übertrieben die „Todesrate“ um den Faktor zehn; sie
gingen von „mehr als 2.000 Toten“ während der ersten Tage der Proteste in
Bengasi aus, während Human Rights Watch (HRW) später nur 233 Tote im ganzen
Land zählte. Dass Gaddafi nicht die Zivilbevölkerung, sondern aufständische
Kämpfer zum Ziel hatte, zeigt sich auch bei der Zahl von Verwundeten in
Misrata. Dort wurden laut HRW in den ersten sieben Wochen 949 Personen
verletzt, davon waren nur 30 Frauen oder Kinder. In dieser Zeit wurden in der
Stadt Misrata mit einer Bevölkerung von 400.000 genau 257 Menschen getötet. Auch
richtete Gaddafi kein Blutbad in einer der anderen Städte wie Aidabija, Bani
Walid, Brega, Ras Lanuf, Zawija und dem Großteil von Misrata an, die seine
Armee von den Rebellen vor der Nato-Intervention rückerobert hatten. Es findet
sich kein Hinweis darauf, dass er dies bei der Rückeroberung der noch von
Rebellen gehaltenen Stadt Bengasi vorgehabt hätte. Die weitverbreitete
Meinung, das Hauptziel der Nato in Libyen wäre es gewesen, Zivilisten zu
schützen ist also falsch. Es gibt genügend Beweise, die zeigen, dass es das
Ziel der Nato war, Gaddafi zu stürzen, auch wenn dadurch das Leiden der Zivilbevölkerung
zunahm. Im Gegensatz zu Gaddafi attackierte die Nato die libyschen
Streitkräfte ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, selbst in solchen Fällen
wie in Gaddafis Heimatstadt Sirte, wo die libysche Armee auf dem Rückzug war
und die Nato verkündete, die Zivilisten zu schonen. Darüber hinaus
unterstützte die Nato auch dann noch die Rebellen, wenn diese wiederholt einen
Waffenstillstand, den die Regierungstruppen anboten, ablehnten, obwohl dieser
dazu hätte beitragen können, die Gewalt zu beenden und Zivilisten zu schonen.
Erst diese militärische Hilfestellung zusätzlich zu Waffenlieferungen,
militärischer Ausbildung und der Entsendung verdeckter, hunderte Mann starker
Truppen aus Katar, ermöglichte es den Rebellen, Gaddafi gefangen zu nehmen und
zu töten und im Oktober 2011 die Macht in Libyen zu übernehmen.
Ein falsches Verständnis ist es also, wenn gemeint wird, dass die
Intervention Leben rettete und Libyen und seinen Nachbarn von Nutzen war. Denn
als die Nato Mitte März 2011 in Libyen intervenierte, hatte Gaddafi bereits
über den Großteil von Libyen wieder die Kontrolle zurückerlangt, während sich
die Rebellen auf einem schnellen Rückzug in Richtung Ägypten befanden. Der
Konflikt war sechs Wochen nach seinem Beginn so gut wie zu Ende und hatte etwa
1.000 Menschen das Leben gekostet, darin eingeschlossen Soldaten, Rebellen und
Zivilisten, die ins Kreuzfeuer geraten waren. Als die Nato eingriff, konnten
die Rebellen ihre Angriffe fortsetzen, was insgesamt 7.000 mehr Tote bedeutete.
(A.d.Ü.: Man geht inzwischen von mindestens 25.000 Toten aus,
Schätzungen sprechen sogar von bis zu 50.000 Toten.)
Die beste Entwicklung im Post-Gaddafi-Libyen war die demokratische
Wahl des Jahres 2012, bei der eine moderate, säkulare Regierung gewählt wurde.
[A. der Ü.: Wie sich die Situation
inzwischen verschlechtert hat, ist ja bekannt. Die moderate Regierung wurde aus
Tripolis von dschihadistischen Kämpfern nach Tobruk vertrieben und in Tripolis
eine Gegenregierung ausgerufen. Das Land wird beherrscht von sich bekämpfenden
Rebellengruppen, der IS breitet sich aus. Libyen ist zerstört und ökonomisch am
Ende.] Andere Entwicklungen geben weniger Grund zur Hoffnung. Die
siegreichen Rebellen verübten Rachemorde und vertrieben 30.000 meist schwarze
Bewohner der Stadt Tawerga aus ihren Häusern mit der Begründung, sie seien
Gaddafi-„Söldner“. Wie HRW 2012 berichtete, seien diese Auswüchse, die man als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen kann, weit verbreitet und würden
systematisch betrieben.
Radikale Islamistengruppen, die Gaddafi nicht hatte aufkommen lassen,
waren während des Krieges die eifrigsten Kämpfer und verweigerten nun ihre
Entwaffnung. Sie erkannten auch die staatlichen Autoritäten nicht an. Die
Bedrohung durch diese Gruppen fand im September 2012 einen Höhepunkt, als
US-Einrichtungen in Bengasi angegriffen und Botschafter Christopher Stevens und
drei seiner Kollegen ermordet wurden. Im April 2013 zerstörte eine Autobombe
große Teile der französischen Botschaft in Tripolis. In Anbetracht der
unsicheren Lage ist es verständlich, dass die meisten Libyer dazu neigen,
nostalgische Gefühle für einen starken Führer wie Gaddafi zu hegen.
Unter den Nachbarstaaten hatte Mali, das in dieser Region vor der
Intervention eine Ausnahme bezüglich Frieden und Demokratie darstellte, am
meisten unter den Konsequenzen des westlichen Eingreifens zu leiden. Nach dem
Sturz Gaddafis flohen die Tuareg Kämpfer, die in der libyschen Armee gedient
hatten, zurück in ihre Heimat Mali und begannen im Norden des Landes eine
Rebellion, die dazu führte, dass die malische Armee den Präsidenten stürzte.
Schon bald wurde die Tuareg-Rebellion von islamistischen Kräften und al-Kaida
gekapert, die Scharia wurde eingeführt und weite Teile Nordmalis für unabhängig
erklärt. Im Dezember 2012 stellte die nördliche Hälfte Malis „weltweit das
größte Gebiet dar, dass je von islamistischen Extremisten kontrolliert wurde“,
wie der Vorsitzende des Unterausschusses für Afrika des U.S.-Senats sagte.
Dieses Chaos sorgte für die Flucht tausender Zivilisten, so dass Amnesty
International von „Malis schlimmster Menschenrechtssituation in den letzten 50
Jahren“ sprach.
Hochentwickelte Waffen aus den Beständen der libyschen Armee –
einschließlich tragbarer Boden-Luft-Missiles – fielen in die Hände radikaler
Islamisten.
Die Intervention der Nato zugunsten der libyschen Rebellen
ermutigte Mitte 2011 auch die syrischen Rebellen, die zunächst friedlich
protestiert hatten, gewalttätig vorzugehen. Sie hofften, damit eine ähnliche
Intervention wie in Libyen auslösen zu können. Die daraus folgende Eskalation
in Syrien vergrößerte die Todesrate um das Zehnfache. [A.d.Ü.: Das war
2013 – heute spricht man von mehr als 250.000 Toten.]
Aus dem Ganzen zieht der Autor drei Schlussfolgerungen: Erstens
sollte man sich vor Rebellenpropaganda hüten, die aufgrund gefälschter
Völkermordvorwürfe den Ruf nach Intervention ertönen lässt. Zweitens sollten
Interventionen aus humanitären Gründen in den Fällen unterlassen werden, die
Rebellen Vorteile bringt und Zivilisten gefährdet, sofern nicht wirklich am
Kampf Unbeteiligte angegriffen werden. Und drittens sollte man der Tendenz
widerstehen, Einsätze aus humanitären Gründen in einen Regime-Change
umzuändern, der die Risiken der Zivilbevölkerung vergrößert.
Falls Libyen überhaupt als Modell angesehen wird, dann als ein
Modell für Scheitern.
[1]
http://belfercenter.ksg.harvard.edu/publication/23387/lessons_from_libya.html
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