Dienstag, 28. Juli 2020



Unterschiedliche Rollen: Türkei und Ägypten

Libyen. An-Nayed: Die Türkei kolonisiert das Land, ihre Militärpräsenz ist Besatzung. Wer die Rolle der Stämme leugne, versteht die Geschichte Libyens und sein Sozialgefüge nicht 

Der frühere Botschafter und Vorsitzende der libyschen Ihya-Bewegung, Dr. Aref an-Nayed, gab am 16.07. SkyNewsArabia ein Interview. Darin vertritt er die Auffassung, dass der ägyptische Präsident as-Sisi sensibel auf die Gefühle der Libyer eingeht, während der türkische Stabschef eine „arrogante“ Rede in Mitiga gehalten habe, bei der keine libyschen Vertreter anwesend waren, nicht einmal Verbündete innerhalb der ‚Einheitsregierung‘.
Er fragt: „Wie kann sich der libysche Präsidialrat in eine Situation begeben, in der ein türkischer Stabschef Vorträge auf dem libyschen Mitiga-Luftwaffenstützpunkt hält, ohne dass dabei ein einziger Libyer anwesend ist? Es ist verblüffend anzusehen, wie er [der türkische Stabschef] in Misrata ankam, aus dem Hubschreiber stieg und der Innenminister der ‚Einheitsregierung‘ [Fathi Bashagha] ihn bis zur Tür der türkischen Einsatzzentrale begleitete und dort wartete, während der türkische Stabschef eintrat, sich mit Türken traf, eine Rede auf Türkisch hielt, dann den Raum wieder verließ und der Innenminister ihn zurück zum Flugzeug begleitete. So etwas hatten die Libyer seit 1910, der Zeit des Kolonialismus, nicht mehr gesehen.“
Nayed bezeichnet die türkische Militärpräsenz zur Unterstützung der ‚Einheitsregierung‘ als „Besatzung“ der Militärstützpunkte Mitiga und al-Watiya. Syrische Söldner würden von Bashagha, dem Innenminister der ‚Einheitsregierung‘, in libysche Polizeiuniformen gesteckt und dieser brüstete sich damit, wenn diese die Jugend in Tripolis, Misrata und Zawiya schikanierten.

Das Verhalten Erdogans in Libyen bezeichnet Nayed als „pathologisch“. „Erdogan zeigt seinen unersättlichen Ehrgeiz nicht nur in Libyen, sondern auch in Tunesien, Algerien und Nordafrika ganz offen, indem er sich auf das osmanische Erbe und das libysche Volk türkischer und nichttürkischer Herkunft bezieht. Dies sind neue koloniale Tricks".
Nayed sagt, dass Erdogans Handlungen den Präsidenten des libyschen Parlaments, Aguila Saleh, bei seiner Rede als Oberbefehlshaber der libyschen Streitkräfte vor dem ägyptischen Parlament veranlassten, Ägypten um eine Intervention in Libyen zu bitten. Dieser Schritt sei keineswegs ungewöhnlich gewesen, sondern auf ein Schreiben des libyschen Parlaments vom 13.07. und dem Besuch der Scheichs der libyschen Stämme gefolgt.

Nayed verweist auf das Treffen in Kairo zwischen dem ägyptischen Präsidenten und hochrangigen Stammesvertretern aus allen Teilen Libyens. Er wiederholt, dass Libyen über ein rechtmäßiges, vom Volk gewähltes und international anerkanntes Parlament (Repräsentantenhaus/HOR) verfügt und dass dieses Parlament eine Armee und eine Regierung hat. „Es stimmt zwar, dass die ‚Einheitsregierung‘ leider international anerkannt ist, aber sie hat nicht das Vertrauen des Parlaments und wird von der libyschen Justiz nicht anerkannt. Sie hat mehr als 17 Verfahren aufgrund ihrer mangelnden Befugnisse verloren.“
Bezüglich der Rolle der libyschen Stämme sagt Nayed: „Die Mehrheit der Bevölkerung in Libyen, selbst in den Städten und in der Hauptstadt Tripolis, gehört Stämmen an. Niemand kann deren Bedeutung und die ihrer Scheichs leugnen. Sie autorisierten die libysche Armee, sie wiesen ihre Kinder an, für Libyen zu kämpfen, um das Land aus dem Griff des Terrorismus und der Übernahme der Zentralbank durch die Muslimbruderschaft zu befreien“. Die Stämme würden den libyschen Staat stärken, ohne sie kann das Parlament nicht effektiv arbeiten. Wer die Rolle der Stämme leugne, verstehe weder die Geschichte Libyens noch dessen soziales Gefüge.
Bezüglich einer ägyptischen Intervention meint Nayed: „Alle Optionen sind möglich. Wie ich persönlich meine, würde es reichen, wenn Ägypten den Luftraum schützt, libysche Gewässer vor der türkischen Marine sichert und die libysche Armee technisch unterstützt. Die Libyer können ihr Land selbst verteidigen, die libyschen Stämme haben darin eine lange Erfahrung.“ Er fügte hinzu: „Wir sprechen nicht von einer ägyptischen Invasion. Dem ägyptischen Präsidenten war das klar. Er sprach nicht von einer ägyptischen Besatzung, wie dies leider türkische Medien in Tripolis behaupten. Die Kapazitäten der ägyptischen Armee in Anspruch zu nehmen, ist aufgrund der türkischen Intervention und dem militärischen Ungleichgewicht, verursacht durch türkische Drohnen, moderne Technik, Radar und Luftabwehr, notwendig geworden. Dieses Ungleichgewicht nötigte die libysche Nationalarmee, sich aus Tripolis, Tarhuna und Bani Walid zurückzuziehen, nachdem sie bis auf sechs Kilometer ins Zentrum der Hauptstadt vorgerückt war. Dieser Rückzug hat die ‚Einheitsregierung‘ zu Arroganz verleitet, insbesondere die von Khaled al-Mishri angeführte Muslimbruderschaft, die davon sprach, die Kontrolle der ‚Einheitsregierung‘ auf ganz Libyen auszudehnen. Dies wird ihnen niemals gelingen.“

Sirte und al-Dschufra seien die von Ägypten gezogenen roten Linien. Dies bedeute jedoch nicht, dass sich die LNA bei einem Angriff auf das Halten dieser Verteidigungslinie beschränken würde, sondern beabsichtige, weiter vorzurücken, auch auf Misrata, Tripolis und Zuwara.
Libyen gehöre der Liga der Arabischen Staaten (LAS) an, zwischen denen es ein Verteidigungsabkommen gebe, das allerdings nur mangelhaft umgesetzt werde. Die arabischen Länder hätten die Pflicht, sich gegenseitig gegen jede ausländische Invasion zu verteidigen: „Die türkische Invasion ist eine ausländische Invasion, die von allen Arabern bekämpft werden muss, nicht nur von Ägypten, sondern auch von Algerien, Tunesien, Saudi-Arabien, Bahrain, Jordanien und dem Sudan sowie von allen anderen arabischen Ländern, die sich der anerkennenswerten ägyptischen Position anschließen müssen“.

Nayed verweist auf die während der Ära von Oberst Muammar Gaddafi geschlossenen Verteidigungsabkommen mit Ägypten, die immer noch gültig seien und die rechtliche Seite einer ägyptischen Intervention in Libyen abdecken.
Die türkische Intervention habe ein völlig neues Niveau erreicht, auch durch die Übernahme der politischen Führungsrolle in Tripolis. Unter der Leitung des türkischen Geheimdienstchefs habe eine riesige türkische Delegation Libyen besucht: „Sie brachten ihre Wirtschaftsexperten und Vertreter türkischer Banken mit, einschließlich des Managers der Ziraat-Bank, der kam, um al-Miri, die alte osmanische Steuer, wieder einzutreiben.“

Nayed vertritt die Ansicht, dass das libysche Volk und die Armee das Land aus dem Sumpf der Moslembruderschaft retten müsse, da diese inzwischen den Staat kontrolliere. Deshalb habe das Parlament die ägyptische Armee um Hilfe gebeten. Dies sei völlig gegensätzlich zu den Abkommen, die die ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis mit der Türkei geschlossen habe. Diese Abkommen habe das Parlament nie ratifiziert, da das Parlament der Regierung Sarradsch kein Vertrauen ausgesprochen habe. Daher seien laut dem Gesetz alle von ihr geschlossenen Abkommen null und nichtig.
Zur Ernennung des Parlamentssprechers als Vertreter bei der Europäischen und Afrikanischen Union und den USA sagt an-Nayed: „Alle diese Länder erkennen die Rechtmäßigkeit des libyschen Parlaments an, empfangen dessen Sprecher [Aguila Saleh] wie ein Staatsoberhaupt und statten ihm Besuche in seinem Hauptquartier in al-Qubbah ab. Wir bemühen uns, diese Beziehungen zu festigen und zu stärken, aber bedauerlicherweise zeigen einige Länder größeres Interesse an einer Regierung, die Blankoschecks ausstellt. Diese Regierung hat dies für Italien und die Türkei getan und Abkommen unterzeichnet, die das Parlament nicht akzeptiert. Dies liegt leider im Interesse einiger Länder, aber wir appellieren an die Liga der Arabischen Staaten, die Initiative zu ergreifen und die Anerkennung dieses ungerechten und unrechtmäßigen Präsidialrats zurückzuziehen“.
Zur Möglichkeit, eine politische Lösung zu finden, meint Nayed: „Dies ist nur möglich, wenn die ‚Einheitsregierung‘ die 12.000 türkischen Söldner entfernt, von denen die meisten Terroristen sind und die jetzt in den Uniformen der libyschen Polizei und Armee stecken und eine Ausbildung bekommen. Sie sollten dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind. Wenn Erdogan sie so sehr bewundert, soll er sie in die Türkei holen. Die ‚Einheitsregierung‘ sollte auch die türkische Armee in ihren Einsatzzentralen auffordern zu gehen, denn sie kolonisieren unsere libyschen Stützpunkte. Dann wird es eine politische Lösung geben. Andernfalls wird es nie zu einer politischen Lösung kommen“.

https://almarsad.co/en/2020/07/17/video-nayed-says-egyptian-moves-are-legitimate-confirms-bashagha-is-bullying-tripoli-with-his-syrian-militias/

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