Libyen und die Migranten
von Angelika Gutsche
Libyen war über Jahrzehnte sowohl Endstation als auch
Durchgangsland für Migranten aus Schwarzafrika. An den Rändern der Städte
bildeten sich schwarze „communities“, deren Bewohner in zusammengeschusterten
Hütten und Häusern lebten. Ab und an wurden diese Behausungen von der Regierung
wieder platt gemacht. Als Wohnstätten für die Emigranten waren auch die
aufgelassenen Lehmsiedlungen alter Städte beliebt, deren einstmals libyschen
Bewohner in neu gebaute, moderne Siedlungen umgezogen waren. In den alten
Gemäuern bildete sich nun eine eigene schwarze Infrastruktur mit Läden und
Dienstleistungsanbietern wie Friseurläden.
Obwohl es auch unter Gaddafi Arbeitslosigkeit gab, war es
unter der Würde eines Libyers, niedrige Arbeiten am Bau, in der Landwirtschaft
oder im Dienstleistungsgewerbe auszuüben. All diese Arbeiten wurden von
Emigranten aus den arabischen Nachbarstaaten wie Tunesien, Ägypten und Algerien
und von Schwarzafrikanern, die aus Ländern südlich der Sahara stammten,
geleistet. Für die libysche Wirtschaft waren Gastarbeiter in fast allen
Branchen und Wirtschaftsbereichen unersetzlich. Dies trug auch zur
wirtschaftlichen Stabilität der Länder bei, aus denen die Arbeitssuchenden
kamen, darunter an erster Stelle Ägypten, gefolgt von den subsaharischen
Ländern. Weitere Arbeitsemigranten kamen aus den benachbarten Ländern Tunesien
und Algerien, etliche auch aus Asien, aus Pakistan, Bangladesch, Vietnam oder
von den Philippinen. Sie alle suchten ihr Arbeitsglück in Libyen.
An den Einfallstraßen der libyschen Städte standen beim
Kreisverkehr schwarze Tagelöhner, die auf Arbeit warteten. Heute finden sich
diese Bilder in Süditalien, das nun zum nördlicher gelegenen Transit- und
Einwanderungsland vor allem für Schwarzafrikaner geworden ist. Auch ähneln die
Unterkunftsstrukturen in Italien denen des ehemaligen Libyen: Aufgelassene
Gehöfte in Apulien und verlassene Dörfer in Kalabrien bieten Unterschlupf für
die hier Gestrandeten. Und die Probleme, die sich in Süditalien
herauskristallisieren, ähneln ebenso jenen, die in Libyen zu Tage traten: Die
meist schwarzafrikanischen Emigranten werden für Kriminalität, Drogenhandel und
Prostitution verantwortlich gemacht. Und so wie es auch in Süditalien immer
wieder zu gewalttätigem Vorgehen Einheimischer gegen die oft illegal
Zugewanderten kommt, hatte mit diesem Problem auch Libyen zu kämpfen. So kamen
dort im Jahr 2000 bei Ausschreitungen gegen Migranten 130 Menschen zu Tode.
Insgesamt wird geschätzt, dass sich in Libyen bis zum Krieg
2011 etwa zwei Millionen Emigranten aufhielten.
Im Jahr 2005 hatte die „Europäische Agentur für die
operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, kurz Frontex, ihre Arbeit
aufgenommen und lotete 2007 bei einem Besuch in Tripolis die Möglichkeiten
einer Zusammenarbeit mit Libyen hinsichtlich der Beschränkung der
Migrantenströme nach Europa aus. Libyen war und ist gemäß der UN-Definition als
Transitland dazu verpflichtet, Migranten daran zu hindern, sein Territorium zu
durchqueren, um illegal in ein anderes Land zu gelangen. Bei den Gesprächen mit
Frontex wies Libyen darauf hin, dass es selbst stark unter der illegalen
Einreise zu leiden habe und dass die Sicherung der Grenzen sowohl in der
südlichen Sahara als auch am Mittelmeer beträchtliche Kosten verursache. Libyen
forderte daher von der EU sowohl Hilfe bei der technischen Ausrüstung wie auch
bei der Schulung von Experten. Die dem Innenministerium unterstellte Marine
inklusive der Küstenwache war von besonderer Wichtigkeit. Um nur ein paar
Zahlen zu nennen: Im Jahr 2006 fasste Libyen 357 Menschenschmuggler,
konfiszierte 51 Fahrzeuge und 17 Boote, fand 360 angespülte Leichen und griff
32.164 illegale Immigranten auf
.
Die Europäer machten sich natürlich nicht selbst die
Hände schmutzig. Da Europa Flüchtlinge nicht zurückweisen darf, verhinderte
man, dass diese Europa überhaupt erst erreichten. Dieser Ansatz wurde, obwohl
nicht mit dem europäischen Asyl- und Flüchtlingsrecht in Einklang, seit 2005
von Frontex umgesetzt. Darüber hinaus bestanden geheime Abmachungen
zwischen Libyen und Italien, von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren
sollte. In Libyen gab es Auffang- und Abschiebelager, die nicht unbedingt den
westlichen Menschenrechtsvorstellungen entsprachen. Deshalb hatte noch 2010
EU-Kommissar António Vitorino ein Pilotprojekt für Libyen, Tunesien, Algerien,
Marokko und Mauretanien angekündigt, das zusammen mit dem UN-Flüchtlingswerk
helfen sollte, europäische Standards bei der Aufnahme von Flüchtlingen
einzuhalten. Libyen wurde noch am 29.11.2010 von der „Zeit“ als „Türsteher
Europas“ bezeichnet und im Januar 2011 wollte die EU mit Libyen ein
Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge schließen.
Aus heutiger Sicht können die damaligen Auffanglager in
Libyen im Vergleich zu jenen Lagern, die seit dem Zusammenbruch des libyschen
Staates betrieben werden, nur als human bezeichnet werden. Die aktuellen
Berichte sprechen von unhaltbaren, menschenunwürdigen Zuständen mit
katastrophalen hygienischen Bedingungen. In den Lagern herrsche Gewalt, Folter
und Vergewaltigungen seien an der Tagesordnung. Aber auch außerhalb der Lager
seien vor allem die Emigranten aus Schwarzafrika Freiwild, die wie Sklaven
ausgebeutet würden und ständig um Geld und Leben fürchten müssten.
Bei Beginn des Krieges in Libyen wurde aufgrund der
Verfolgung dunkelhäutiger Menschen durch die Aufständischen von März bis Ende
Mai 2011 über eine halbe Million Ausländer an den Grenzen registriert, die
Libyen schnellstmöglich verlassen wollten. Die meisten versuchten, sich nach
Tunesien oder Ägypten abzusetzen, etliche flohen Richtung Süden in den Niger.
In Tunesien kam es zu erschreckenden Vorgängen in den provisorischen
Flüchtlingslagern. Auch dort herrschten entsetzliche Zustände.
Die Zahl derer, die ohne Registrierung schwarz über die
Grenzen flohen, dürfte weit über einer halben Million gelegen haben. Es
strömten all die Ägypter, Tunesier und Marokkaner, die vorher in Libyen ein
Auskommen gefunden hatten, zurück in jene Heimatländer, die schon vorher von
hoher Arbeitslosigkeit geplagt waren. In diesen politisch und ökonomisch
schwierigen Zeiten stellten sie für die Staaten, die sich nach den politischen
Umstürzen neu zu orientieren versuchten, eine weitere Belastung dar.
Nach dem Sturz Gaddafis mussten auch dessen Anhänger, die
auf brutale Weise von den nun an die Macht gekommenen Milizen verfolgt wurden,
flüchten. Die meisten setzten sich nach Tunesien und Ägypten oder in andere
arabische Länder ab, viele flohen in den Niger oder auch nach Europa. Von den
etwa sechs Millionen Libyern dürfte etwa ein Drittel das Land verlassen haben.
Noch im Juli 2014 berichtete Arte in einer Reportage von den mindestens 600.000
Dschamahirija-Anhängern, die sich in Tunesien versteckt halten, da sie von den
neuen Machthabern in Libyen verfolgt werden.
Die meisten Tuareg, von denen viele in der libyschen Armee
gedient hatten, flohen nach dem Sturz Gaddafis mitsamt ihren Waffen in den
Niger und weiter nach Nordmali. Dies führte zur Destabilisierung einer ganzen
Region, die bis heute anhält.
2011 war auch der Beginn der großen Migrationsströme nach
Europa. Bisher konnten Barrieren wie Mauern, Zäune, Militärkontrollen,
elektronische und Infrarotkontrollen und Abkommen mit den Herkunfts- und
Transitländern in Afrika den Schengenraum mit Hilfe von Frontex für
afrikanische Flüchtlinge relativ dicht machen. Als im April 2011 die Grenzen
Nordafrikas nicht mehr kontrolliert wurden, kamen zunächst in wenigen Wochen
über 20.000 Tunesier in zumeist kleinen Fischerbooten auf der italienischen
Insel Lampedusa an. Die migrationswilligen Menschen nutzten natürlich die
einmalige Möglichkeit, die sich ihnen durch die offenen maritimen Grenzen in
Libyen und Tunesien bot und flohen über das Meer nach Italien.
So berichtete der junge, in einem italienischen Auffanglager
gestrandete Tunesier Farid, wie er viele Jahre in Libyen in einem Hotel
gearbeitet und nun in Tunesien kein Auskommen mehr hätte. Für die Überfahrt
habe er über tausend Euro bezahlt, 45 junge Männer hätten auf einem vier Meter
langen Fischerboot das Mittelmeer überquert. Natürlich hätte ein lebensgefährliches
Risiko bestanden, doch das wäre eine einmalige Chance gewesen, die einfach
jeder nutzen müsse.
Die Emigranten wurden von Lampedusa aus auf verschiedene
Lager innerhalb Italiens verteilt. Das größte Auffanglager befand sich im
apulischen Bari, aber es wurden Flüchtlinge auch in anderen provisorischen
Flüchtlingslagern untergebracht, so in einer auf einem ehemaligen
Militärflughafen errichteten Zeltstadt bei Oria. Zwischenzeitlich befanden sich
dort über 1700 Tunesier, fast ausschließlich junge Männer.
Ein Satz machte in Italien die Runde: „Frankreich bekommt jetzt das libysche Öl
und wir bekommen die Flüchtlinge“.
Im April 2012 versuchte die italienische Regierung, mit
Libyen den italienisch-libyschen Freundschaftsvertrag fortzuführen, der
besagte, Libyen solle seine Grenzen sichern und dafür Unterstützung von der EU
erhalten. Doch das war aufgrund des anhaltenden Chaos‘ in Libyen reine
Illusion. Die Anzahl der Menschen, die von Libyen aus versuchten, mit Booten
über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, steigerte sich weiter von Jahr zu
Jahr. In den ersten vier Monaten 2013 erreichten rund 30.000 Flüchtlinge
Italien, 1.500 kamen auf der Insel Malta an
.
Dass dies nur ein kleiner Vorgeschmack auf das noch Kommende war, ahnten damals
wohl die wenigsten.
Ende 2014 beschloss Europa, das Seenothilfsprogramm Mare Nostrum, das vor allem vor den
Küsten Libyens Menschen aus Seenot rettete, einzustellen. Man hoffte, dass dies
als Abschreckung für die Fluchtwilligen dient. Keine Rettung mehr auf offener
See und keine sichere Überfahrt in die Häfen von Lampedusa und Malta. Wer nach
Europa wollte, musste sich ab jetzt auf seeuntüchtigen Fischerbooten
lebensgefährlichen Gefahren aussetzen.
Doch schon Anfang 2015 musste diese Strategie des
„Absaufenlassens“ aufgegeben werden. Die Situation in Libyen hatte sich
dermaßen verschlechtert, dass die Menschen ohne zu zögern bereit waren, auf den
Seelenverkäufern der Menschenschlepper ihr Leben zu riskieren. Der
Fernsehsender Arte berichtete, wie im ehemaligen Zoo von Tripolis jetzt
Emigranten an Stelle von Tieren hinter Gittern gehalten wurden, bewacht von der
Miliz Abdel Rezag. Die ehemaligen „Rebellen“ wollten Libyen von Fremden
säubern.
Als im April 2015 bei einem Schiffsunglück vor der libyschen
Küste über 900 Menschen vor allem aus Schwarzafrika ertranken und das
UN-Flüchtlingswerk bekanntgab, dass seit Jahresbeginn 2015 insgesamt knapp 1000
Menschen auf dem Mittelmeer den Tod gefunden hätten, führte dies in der
westlichen Öffentlichkeit zu einem gewaltigen Aufschrei. Am 16. April 2014
stimmte das Europäische Parlament über eine neue Seeaußengrenzenverordnung ab.
Dabei wurde betont, dass Frontex die Pflicht zur Seenotrettung hat und
Einwandererboote nicht mehr abdrängen oder zur Umkehr ins offene Meer zwingen
darf. Aufgegriffene Flüchtlinge dürften auch nicht mehr in jene Länder
verbracht werden, in denen ihnen eine Gefahr für Leben oder Freiheit drohe.
Anstelle der eingestellten Seenotrettungsmission „Mare Nostrum“ wurde eine
neue, wenngleich eingeschränkte und bedeutend schlechter ausgestattete Mission
zur Rettung von Schiffbrüchigen namens „Triton“ aufgelegt. Gleichzeitig hatten
es über 11.000 Menschen allein in einer Aprilwoche des Jahres 2015 geschafft,
von Libyen aus die italienische Küste zu erreichen. Die Strategie der
Abschreckung durch die Einstellung von „Mare Nostrum“ war komplett gescheitert.
Der Regierungschef der libyschen Regierung in Tobruk
machte die westlichen Staaten für das Chaos verantwortlich, das in Libyen
herrschte. Eine libysche Armee sei ebenso wie Sicherheitskräfte praktisch nicht
mehr existent und so wäre es nicht möglich, staatliche Strukturen
wiederherzustellen. Nur ein funktionsfähiger libyscher Staat sei in der Lage,
die lange Küste zu kontrollieren und dem mafiösen Bandenschlepperwesen einen
Riegel vorzuschieben.
Es kamen immer mehr Menschen von Libyen nach Italien, denn
Libyen war zur Hölle geworden. Weg wollten alle, nicht nur jene, die Libyen von
jeher nur als Transitland ansahen, sondern auch alle Arbeitsemigranten, die in
Libyen vormals als Hausmädchen, Gärtner, Landarbeiter und Ähnlichem eine
Beschäftigung gefunden hatten, die nun weggebrochen war.
Es war offensichtlich, dass sich dschihadistische Kämpfer
unter den Augen der islamistischen Gegenregierung in Tripolis mit
Menschenschmuggel ihr Geld verdienten. Der Spiegel zitierte einen libyschen
Berber, der seine Geschäfte mit Menschenhandel vom tunesischen Dscherba aus
steuerte und erklärte, seine Auftraggeber wären die Anführer des
dschihadistischen libyschen Fadschr (Morgendämmerung),
mit denen die Milizen seiner Heimatstadt
Zuwara zusammenarbeiteten, um die Flüchtlingsgeschäfte abzuwickeln.
Die Flüchtlingsboote starteten alle im Westen des Landes, in der Gegend um
Zuwara und Zawija, Khoms, Misrata und Tripolis, Gebiete, die vom libyschen
Fadschr kontrolliert wurden. Der italienische Geheimdienst schien genau zu
wissen, um welche Banden und Milizen es sich handelte, sogar wer die Bosse der
Organisationen waren. Der Spiegel schreibt: „Im Schatten des Flüchtlingsdramas
ist das Seegebiet vor Westlibyen zum Drehkreuz einer neuen Mittelmeermafia
geworden, hier werden neben Menschen auch Waffen, Drogen und Benzin
geschmuggelt. Und in der Hauptstadt Tripolis ist eine explosive Mischung von
Extremisten und Mafianetzwerken entstanden.“
Und die ehemalige Kultusministerin von Mali, Aminata D. Traoré ergänzte: „So
manche, die in Libyen keine Arbeit mehr finden konnten, sind zu Fluchthelfern,
zu Dschihadisten oder zu Drogenschmugglern geworden.“
An den Flüchtlingen verdienten viele. Das große Geschäft mit
der Flucht boomte nicht nur in Libyen, sondern auch in Italien. So wurden im
Juni 2015 in Italien 44 Personen festgenommen, die in einen Korruptionsskandal
um den Betrieb von Aufnahmelagern für Flüchtlinge verwickelt waren. Mit
korrupten Geschäften in Zusammenhang mit der Versorgung von Flüchtlingen
verdiente die italienische Mafia inzwischen mehr Geld als mit Waffel- und
Drogendeals.
Das einträgliche Geschäft mit den Flüchtlingen stand auch einer Aussöhnung der
verfeindeten Gruppen in Libyen entgegen, denn der libysche Fadschr war tief in
das Menschenschmuggelgeschäft verstrickt und wollte auf seine Einnahmen nicht
verzichten.
Inzwischen wurden Befürchtungen laut, dass sich IS-Kämpfer
unter die Migranten mischen könnten, um über das Mittelmeer nach Europa zu
kommen und dort ihr Unwesen zu treiben. Es kursierte die These, dass das
bedauernswerte Schicksal der Emigranten die Europäer moralisch wehrlos machen
soll und diese so dazu zwinge, die Grenzen für Emigranten zu öffnen.
Als Julian Assange sein Buch „The WikiLeaks Files“ (Die
WikiLeaks-Akten) vorstellte, das von US-Diplomaten verfasste Dokumente
öffentlich machte, war in diesen Mails auch die Rede von Flüchtlingen als
„Destabilisierungsfaktor“.
Damit war allerdings gemeint, dass die geflüchteten Fachkräfte dem Land fehlen,
aus dem diese Emigranten stammen und dass dieser Staat ohne die Menschen mit
einer guten Ausbildung nicht mehr funktionieren könne. Eine Situation, wie sie
schon bald in Syrien entstehen könnte. Bei den aus den subsaharischen Ländern
stammenden Emigranten, die über Libyen nach Europa kommen, dürfte eher das
Gegenteil der Fall sein. Meist entspricht ihre schulische und berufliche
Ausbildung nicht europäischen Standards, so dass sie für den Arbeitsmarkt nicht
ausreichend qualifiziert sind, und sind sie erst einmal in Europa angekommen,
stellen ihre Geldüberweisungen an die zurückgebliebenen Angehörigen eine
unverzichtbare wirtschaftliche Stütze für die Herkunftsländer dar. Ein Grund,
warum sich diese Länder häufig weigern, ihre Staatsangehörigen bei Ausweisung
aus der EU zurückzunehmen. Deshalb ist dem Westen vorrangig daran gelegen, die
über Libyen kommenden Flüchtlingen zu stoppen und nicht die Syrier, die über
die Türkei einreisen.
Im Sommer 2015 verlagerte sich der öffentliche Fokus auf
jene Flüchtlingskarawane, die sich über die Türkei und die sogenannte
Balkanroute nach Europa, insbesondere nach Deutschland bewegt und bei der es
sich vorrangig um syrische Bürgerkriegsflüchtlinge handelt. Die Türkei kann die
Emigranten an der Flucht über das Mittelmeer in das europäische Griechenland
hindern oder es kann sie ziehen lassen und so nutzt die Türkei diesen
Flüchtlingsstrom geschickt als politisches Druckmittel. Es geht der Türkei
dabei nicht in erster Linie um EU-Ausgleichszahlungen und Visaerleichterungen
für türkische Bürger, sondern vor allem darum, das europäische Stillschweigen
gegenüber dem gewalttätigen Vorgehen gegen die Kurden im eigenen Land zu
erkaufen. Und die Türkei erwartet, dass Europa beide Augen zudrückt, wenn von ihr
dschihadistische Gruppierungen in Syrien und Libyen mit Geld, Waffen und
Kämpfern unterstützt werden. Öffentlich bekannt wurde inzwischen der
schwunghafte Ölhandel, den die Türkei mit dem IS betreibt und in den ein Sohn
des türkischen Präsidenten Erdogans verstrickt scheint, sowie die Versorgung
von Verwundeten des IS in türkischen Krankenhäusern, die von einer Tochter
Erdogans unterhalten werden. Das Vorgehen der Türkei scheint mit den USA
abgesprochen und von Nato-Staaten gedeckt.
Die hohe Anzahl von Flüchtlingen wurde für Europa zu einer
enormen Belastung. Flüchtlinge können nicht nur für deren Herkunftsland ein
Destabilisierungsfaktor werden, sondern auch für das Land, das die Flüchtigen
aufnimmt.Beschrieben wird dieser
Vorgang, der zu einer Spaltung der Bevölkerung, einer Überforderung der
Sozialsysteme, ernsthaften Sicherheitsproblemen sowie zu Frustrationen unter
den Geflüchteten führen kann, in einer Studie der amerikanischen
Harvard-Universität.
Auch wenn nun die Balkanroute das öffentliche Interesse
beherrschte, versiegte zu keiner Zeit der Strom der über Libyen kommenden
Emigranten. Im Laufe des Jahres 2015 wurden die Pläne bezüglich eines
europäischen Vorgehens gegen die Flüchtlingsströme immer konkreter. Für den
EU-Einsatz vor der libyschen Küste war der italienische Konteradmiral Enrico
Credendino zuständig, der im Oktober 2015 eine zweite Phase des Kampfes gegen
kriminelle Schlepper ausrief. Diese beinhaltete den Einsatz von sieben
Kriegsschiffen, U-Booten, Drohnen, Flugzeugen und bewaffneten Soldaten, die im
Rahmen der Mission EUNAFVOR außerhalb des libyschen Hoheitsgebiets Dienst
taten. Die Schiffe von Schleppern sollten aufgebracht, beschlagnahmt und
zerstört werden, die Schlepper festgenommen. Der Sinn dieser Maßnahme war mehr
als fraglich. Denn in der Regel wurden die Boote ohne die Begleitung von
Schleppern losgeschickt. Und sollten sich tatsächlich einmal Schlepper an Bord
befinden, würden sich diese wohl kaum zu erkennen geben. Für die
Bootsflüchtlinge wurde die Fahrt über das Mittelmeer durch diese EU-Maßnahmen
noch gefährlicher.
Wie abzusehen, war dieser Einsatz erfolglos. Eine dritte
Phase sieht den Einsatz von EU-Kräften innerhalb libyscher Hoheitsgewässer und
sogar an Land vor. Allerdings sind dafür ein UN-Mandat und die Zustimmung der
libyschen Regierung unabdingbar. Um eine Intervention in Libyen zu
legalisieren, braucht der Westen unbedingt eine Einheitsregierung, die sich mit
der Bitte um Hilfe an die Europäer wendet. In diesem Zusammenhang müssen die
Bemühungen im Rahmen einer Friedenskonferenz in diesem Monat in Rom gesehen
werden, bei der mit Brachialgewalt die Bildung einer Einheitsregierung
durchgesetzt wurde. Von dieser Regierung der Nationalen Einheit, die weder
wirklich demokratisch legalisiert, noch die gesellschaftlichen und politischen
Kräfte des Landes repräsentiert, erhoffen sich die europäischen Staaten das
baldige Gesuch nach einer Intervention in Libyen, um sowohl gegen die
Menschenschmuggler als auch gegen den IS vorgehen zu können. Ein weiterer, wenn
nicht sogar der wichtigste Punkt ist jedoch die Sicherung der libyschen
Ölquellen für den Westen.
Wie hatte doch gleich Muammar Gaddafi in einem Interview mit einer französischen
Zeitschrift 2011 im Vorfeld der drohenden militärischen Intervention gewarnt: „Wenn Ihr mich bedrängt und destabilisieren
wollt, werdet Ihr Verwirrung stiften, al-Kaida in die Hände spielen und
bewaffnete Rebellenhaufen begünstigen. Folgendes wird sich ereignen: Ihr werdet
von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus
nach Europa schwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten.
Al-Kaida wird sich in Nordafrika einrichten, während Mullah Omar den Kampf um
Afghanistan und Pakistan übernimmt. Al-Kaida wird an Eurer Türschwelle stehen…
Die Islamisten können heute von dort aus bei Euch eindringen. Der Heilige Krieg
wird auf Eure unmittelbare Nachbarschaft am Mittelmeer übergreifen… Die
Anarchie wird sich von Pakistan und Afghanistan bis nach Nordafrika ausdehnen.“
Wahrhaft prophetische Sätze.