Das mysteriöse Verschwinden des libanesischen Imams Musa as-Sadr
Libanon. Die Entführung
Hannibal al-Gaddafi im Libanon und das Verschwinden eines schiitischen Imams
vor 37 Jahren
Der 1928 im
Iran geborene und aus einer angesehenen Ajatollah-Familie stammende Musa Sajed
as-Sadr war bei seinem Verschwinden im Jahr 1978 eine hochgeachtete Führerfigur
der Schiiten im Libanon. 1969 wurde er zum Vorsitzenden des höchsten
libanesischen schiitischen Gerichtshofs ernannt. Im Rahmen seines Engagements
für die Besserstellung der Schiiten im Libanon hatte As-Sadr neben Schulen und
Krankenhäusern eine „Bewegung der Benachteiligten“ gegründet.
Zur Zeit des
libanesischen Bürgerkriegs rief der Imam einen islamisch-christlichen-Dialog
ins Leben, politisch stand al-Sadr in starker Gegnerschaft zu Israel und
gründete im Libanon die erste bewaffnete Gruppierung für den Kampf gegen den
Nachbarstaat unter dem Namen „Bewegung der Libanesischen Widerstandsbrigaden
Amal“.
Obwohl man
Imam Sadr keine direkten Beziehungen zum libyschen Revolutionsführer Gaddafi
nachsagte, verband beide die unversöhnliche Feindschaft zu Israel.
Als die
Israelis im März 1978 in den vornehmlich von Schiiten bewohnten Südlibanon
einmarschierten, zweitausend Menschen töteten und 280.000 Einwohner vertrieben,
riet der algerische Präsident Hawari Boumediène dem Imam, Allianzen mit anderen
arabischen Ländern, so auch mit Libyen, zu schmieden. Aus diesem Grund flog
al-Sadr in Begleitung von Imam Mohamad Jaakoub und dem Journalisten Abbas
Badreddine am 25. August 1978 von Beirut ab, um in Libyen Gaddafi zu treffen.
Das Trio war in Tripolis im „Ash-Shath Hotel“ untergebracht, wo Gaddafi die
Libanesen auf einen Termin mit ihm erst einmal warten ließ. Am 31. August
verließen sie das Hotel wieder – laut einem Augenzeugen in einem offiziellen
Konvoi.
Ab diesem
Tag verliert sich die Spur der drei Libanesen, die niemals nach Beirut
zurückkehrten. Über ihr Verschwinden gibt es verschiedene Darstellungen, die
bis heute umstritten sind.
Ein Bericht
besagt, für diesen 31. August sei das Treffen des Imams mit Gaddafi angesetzt
gewesen. Die gleiche Quelle behauptete auch, dass es während des Treffens
zwischen Gaddafi und dem Imam zu einer Auseinandersetzung wegen
unterschiedlicher Einschätzung der Libanonkrise gekommen sei.
Im Gegensatz
dazu bestritt Gaddafi, dass ein Treffen überhaupt stattgefunden habe, und die
libyschen Behörden erklärten, al-Sadr, Jaakoub und Badreddine hätten Tripolis
Richtung Rom mit dem Alitalia-Flug AZ 881 verlassen. Sollte diese Darstellung
richtig sein, kann man vermuten, dass die Libanesen des Wartens auf Gaddafi
überdrüssig waren. Nicht bekannt ist der Grund für ihre Reise nach Rom.
Es wurden in
Tripolis und Rom Untersuchungskommissionen gebildet, die herausfinden sollten,
was wirklich geschehen war.
Laut dem
Untersuchungsergebnis von Tripolis waren alle drei Personen am Flughafen in Rom
angekommen. Dies erklärte auch der Stellvertreter Gaddafis, Abdas-Salam
Dschallud, bei einer Reise in den Iran im April 1979: Imam Sadr sei in Italien
verschwunden und nicht in Libyen. Am 1. Februar 1979 war Khomeini aus dem
französischen Exil zurückgekehrt, hatte die Islamische Republik Iran ausgerufen
und bereits nach kurzer Zeit diplomatische Beziehungen zu Libyen aufgenommen.
Khomeini scheint also durchaus die Darstellungen Libyens für glaubhaft gehalten
zu haben. Auch innerhalb des Libanons war es zu Veränderungen gekommen: Die
schiitische Hisbollah sah sich in der wirklichen Nachfolge von Imam Sadr und
hatte sich von der Amal-Bewegung abgespalten.
Dagegen
führten die Untersuchungen in Rom zu dem Ergebnis, dass Imam Sadr und seine
Begleiter Libyen nicht verlassen hätten, sondern dort verschwunden wären. Zwar
habe eine Person namens Musa as-Sadr im Holiday Inn am Parco die Medici in Rom
eingecheckt, die Beschreibung des Äußeren und das Auftreten des Hotelgastes
stimmten aber nicht mit dem tatsächlichen Aussehen und Auftreten des echten
Musa as-Sadrs überein. Mit folgender Begründung ging die italienische Regierung
von einer libyschen Täterschaft aus: „Musa as-Sadr hat jahrelang für die
Schiiten im Libanon Unterstützung aus Libyen bezogen. Die schiitische
Volksgruppe hat sich aber im libanesischen Bürgerkrieg auf die Seite der
Maroniten geschlagen… Von Seiten der libyschen Geldgeber sei dieses Verhalten
der Schiiten als ein Verrat an der muslimischen Sache betrachtet worden.“[1]
Diese
Begründung erscheint fadenscheinig. Wieso sollte Gaddafi einen Feind Israels
aus dem Weg schaffen lassen, der gerade die Unterstützung gegen das verhasste
Israel suchte? Wenn er den Imam nicht weiter hätte finanzieren wollen, hätte er
ihn deswegen nicht verschwinden lassen müssen. Politisch wäre dies eine grobe
Dummheit gewesen, wie sich aus den Reaktionen auf das Verschwinden des al-Sadrs
bis heute zeigt. Gaddafi war aber kein Hitzkopf, sondern ein kühl
kalkulierender Politiker. Auch stand Gaddafi Christen nicht feindlich
gegenüber, wie das Vorhandensein einer aktiven christlichen Gemeinde in Libyen
während der Ära Gaddafi beweist.
Am 31.
August 2001 veröffentlichte Amnesty International seinen ersten Bericht über
die Vorgänge um das Verschwinden des Imams und stützte die Behauptung Libyens,
dass der Imam und seine Begleiter Libyen verlassen hätten, was eindeutig im
Gegensatz zu dem italienischen Untersuchungsbericht stand.
Nach Beginn
der Bombardierungen Libyens 2011 wurden 33 Jahre später noch einmal alle
Register gezogen, um Gaddafi als Schurken hinzustellen. So wurde die ganze
Angelegenheit im Mai 2011 hochgekocht und in Beirut Oberst Gaddafi in
Abwesenheit wegen des Verschwindens as-Sadrs angeklagt. Verschiedene Versionen
machten die Runde, in denen jedoch stets Gaddafi für das Verschwinden des Imams
verantwortlich sein sollte. So behauptete Ahmed Ramadan, einst ein Vertrauter
Gaddafis, dass Imam Sadr 1978 nach dem Gespräch mit Gaddafi getötet worden sei.
Dagegen behauptete eine Quelle aus dem Nationalen Übergangsrat, dass as-Sadr in
Libyen gefangen gehalten worden war und erst 1998 in Haft verstorben ist. Der
DNA-Test eines angeblichen Leichnams verlief jedoch negativ.
Eine
Nachricht des Senders AlArabiya.net berief sich 2011 auf eine Quelle, die
behauptete, Imam Sadr sei noch immer am Leben und in Libyen inhaftiert.
Angeblich hätten dies auch nach Ägypten geflohene Beamte der Ära Gaddafi
bestätigt. Daraufhin bildete die Familie al-Sadrs einen Komitee, die die
Wahrheit über den Verbleib des Imams herausfinden sollte.
Mitte
Dezember 2015 wurde Muammar al-Gaddafis
Sohn Hannibal im Libanon von Bewaffneten entführt, misshandelt und anschließend
den libanesischen Sicherheitskräften übergeben. Bekannt hatte sich dazu die
Gruppe Amal, die einst von as-Sadr ins Leben gerufen worden war. Hannibal ist mit einer
Libanesin verheiratet, war nach dem Sturz seines Vaters zunächst nach Algerien
geflohen, hielt sich dann aber im Libanon auf. In einem von der Gruppe Amal
Movement veröffentlichten Video musste der durch Folterspuren gezeichnete
Hannibal in einer Botschaft fordern, dass alle Beweise bezüglich des Falles
Mussa Sadr unverzüglich veröffentlicht werden.[2]
Konnte es wirklich im Sinne Libyens gewesen sein, al-Sadr, der
dabei war, eine breite arabische Koalition gegen Israel zu schmieden, ermorden
und/oder verschwinden zu lassen? Dies erscheint kaum glaubhaft angesichts der
massiven Unterstützung, die Gaddafi der Palästinensischen Front zur Befreiung
Palästinas zukommen ließ und der tiefen Feindschaft, die er dem Staat Israel
entgegenbrachte. Im Libanon hatte al-Sadr eine Allianz zwischen den
christlichen Maroniten, den sunnitischen Palästinensern und den Schiiten
zustande gebracht. Wenn dieser machtvolle Bund nun noch die finanzielle
Unterstützung des reichen Libyens erhalten hätte, erscheint es naheliegender,
dass westliche Kreise ein Interesse daran hatten, den charismatischen und hoch
angesehenen schiitischen Imam zu beseitigen, der sich zu einer wirklichen
Bedrohung für Israel hätte auswachsen können. Außerdem darf bezweifelt werden,
dass ein so mit allen Wassern gewaschener Staatsmann wie Gaddafi – sollte er
wirklich den Imam hätte beseitigen wollen – dies im eigenen Land getan und die
Spuren auf sich selbst gelenkt hätte. Wie man weiß, war der libysche
Geheimdienst durchaus in der Lage, im Ausland tätig zu werden und dort
missliebige Personen aus dem Weg zu räumen.
Für den
Westen und insbesondere für Israel hatte das Verschwinden des Imams den
Vorteil, dass man von der neuen charismatischen Führungsfigur nichts mehr zu
befürchten hatte und dass sich die Annäherung zwischen schiitischen Libanesen
und Libyern, beides Feinde des westlichen Lagers und des Staates Israels,
zerschlagen hatte. Indem man Gaddafi die Entführung des Imams in die Schuhe
schob, konnten die Spannungen bis heute aufrechterhalten werden, wie die
Entführung von Hannibal al-Gaddafi durch die schiitische, einst von as-Sadr
gegründete Amal-Miliz zeigt.
Aufschluss
über den tatsächlichen Verbleib von Imam Sadr dürfte nur die Offenlegung
italienischer Geheimdienstarchive bringen. Die Archive Libyens wurden nach dem
Sturz Gaddafis von seinen Gegnern vernichtet.
Die
Entführung Hannibal al-Gaddafis verbunden mit der Forderung nach Aufdeckung der
Hintergründe zum inzwischen 37 Jahre zurückliegenden Verschwinden des Imams hat
einen aktuellen geopolitischen Bezug. Ressentiments und Feindschaft gegen
Volks- und Glaubensgruppen werden vor dem Hintergrund des Irak-, Syrien-,
Jemen- und Libyenkrieges geschürt. Den aktuellen Höhepunkt bildete gerade die
Vollstreckung des Todesurteils gegen den schiitischen Geistlichen Scheich Nimr
Baker al-Nimr in Saudi Arabien, was zu weltweiten Protesten der schiitischen
Glaubensgemeinde und Stürmung der saudi-arabischen Botschaft in Teheran führte.
[1]
Tim Geiger, Amit Das Gupta, Tim Szatkowski: Akten zur Auswärtigen Politik
der Bundesrepublik Deutschland 1980 Bd. II: 1. Juli bis 31. Dezember 1980.
R. Oldenbourg Verlag, München 2011, S. 1420
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