Libyen: Was vor dem 1. September 1969 wirklich geschah
Saif al-Islam Gaddafi veröffentlichte anlässlich des 56. Jahrestags der Septemberrevolution brisante Originaldokumente aus dem Jahr 1969, um das Geschichtsverständnis über die Vorgänge um die Machtergreifung durch die Offiziere der Freien Unionisten zurechtzurücken.
Die Zeitung Ascharq al-Awsat schreibt, Saif al-Islam Gaddafi habe politische und historische Kreise mit der Veröffentlichung des Abdankungsdokuments von König Idris, das auf den 4. August 1969 datiert ist – das heißt 28 Tag vor der Septemberrevolution –, überrascht. Diese Richtigstellung sei wichtig für ein neues Verständnis der damaligen Vorgänge.
Laut Saif al-Islams Bericht reichte König Idris am 4. August 1969 seinen Rücktritt bei den Vorsitzenden des Parlaments und des Senats, Abdul Hamid al-Abbar und Miftah Areqib, ein, nachdem er das Vertrauen in seinen Kronprinzen, Hassan ar-Rida as-Senussi, verloren hatte. Der König sei der Ansicht gewesen, dass die Monarchie für Libyen nicht mehr geeignet wäre und deshalb erwogen, eine Republik unter Führung eines ihm nahestehenden Mitglieds des Schalahi-Clans auszurufen.
König Idris hat demzufolge freiwillig abgedankt und ist nicht durch den Putsch der Freien Unionisten gestürzt worden.
Präsidentschaftskandidat Saif al-Islam Gaddafi zu den von ihm anlässlich des 56. Jahrestags der Septemberrevolution veröffentlichten Dokumente:
„Die Fatah-Revolution richtete sich nicht gegen die Person von König Idris as-Senussi (1) – möge Gott ihm gnädig sein – oder gegen die Regierung von Wanis Gaddafi (2), sondern gegen sechs us-amerikanische und britische Militärstützpunkte, die sich auf libyschem Boden befanden.
Die Fatah-Revolution richtete sich auch gegen zwanzigtausend italienische Siedler, denen die Hauptstraßen, Immobilien und landwirtschaftlichen Flächen im Westen Libyens gehörten.
Und die Fatah-Revolution richtete sich gegen das Eindringen der Briten und deren Kontrolle über alle im Land getroffenen Entscheidungen.
Die Revolution strebte den Aufbau eines starken Libyens an, das sich der nationalen Befreiungsbewegung anschließen, am Krieg zur Befreiung Palästinas teilnehmen und sich für die arabische Einheit sowie andere wichtige Ziele einsetzen wollte – Ziele, von denen die Jugend in den 1960er Jahren träumte.
Angesichts meiner guten Beziehung zur Familie Senussi sehe ich kein Problem darin, viele Geheimnisse der Geschichte, die jahrzehntelang im Dunkeln lagen, zu lüften.
Idris as-Senussi stammte aus einer Berberfamilie, die ihren Ursprung am Berg Senus in Mostaganem, Algerien, hatte. Sein Erzieher, Ausbilder und Mentor war asch-Scharif al-Gharyani, der anschließend zu seinem wichtigsten Berater wurde und einen nachhaltigen Einfluss auf Idris und sein Denken ausübte.
Im Rahmen des Radschma-Abkommens (3) wurde der Titel von Idris as-Senussis von Sayyid zu Emir geändert, was die Umwandlung der Senussiya von einer sufistisch-religiösen Bewegung in eine politische Bewegung zur Folge hatte. Diese Bewegung machte Idris zum Emir von Barqa (4) und schuf mit seinem Bruder [Hassan ar-Rida as-Senussi] als Kronprinzen eine königliche Familie.
Das Radschma-Abkommen war ein Abkommen zwischen Idris as-Senussi und Italien, dem auch Großbritannien zustimmte. In diesem Abkommen fand der Titel Emir zum ersten Mal Erwähnung und Barqa wurde gemäß dieses Abkommens ein Emirat. Der Kern der Vereinbarung bestand darin, dass Idris as-Senussi im Gegenzug für die Einstellung des Dschihads und die Entwaffnung der libyschen Stämme zum Emir gemacht wurde.
Dem ging bekanntlich die Einstellung der Militäroperationen gegen Italien in Libyen und gegen Großbritannien in Ägypten sowie die Ausschaltung von Achmed asch-Scharif (5) voraus.
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Kyrenaika von Streitigkeiten zwischen den Honoratioren geprägt, was dazu führte, dass Idris as-Senussi als König von Libyen eingesetzt wurde. Seine Regentschaft dauerte bis 1969.
König Idris dankte am 4. August 1969, also 28 Tage vor der Revolution des 1. Septembers, ab. Die Verfassung sah vor, dass der Thron an den Kronprinzen übergeben wird. Auch dieser erklärte nach der Revolution öffentlich seine Abdankung.
Heute haben wir sowohl libysche als auch britische Dokumente veröffentlicht, insbesondere die Aussagen des britischen Sonderberaters des Königs, Eric Armard Foley de Candolle. Dieser hatte bestätigt, dass sich das Original der Abdankungsurkunde von König Idris bis heute im Besitz der Familie al-Abbar befindet. Auch das Schreiben von Königin Fatima an den englischen Kanzler bezüglich des Rücktritts des Königs – das dieser in seinen Memoiren zitiert – wurde veröffentlicht.
König Idris hatte sich – wie aus freigegebenen Dokumenten des US-Außenministeriums hervorgeht – ständig über seinen Kronprinzen lustig gemacht und ihn nicht für befähigt gehalten, die Regentschaft auszuüben. Dies fand auch in den Memoiren von Mustafa bin Halim (6) Erwähnung und wurde in den Memoiren des britischen Beraters de Candolle bestätigt.
Als der König seinen Rücktritt einreichte, suchten die Vorsitzenden des Senats und des Parlaments, Abdul Hamid al-Abbar und Miftah Areqib, ihn auf, um ihn umzustimmen. Doch Idris weigerte sich, seinen Rücktritt zu widerrufen und bestimmte stattdessen, dass gemäß der Verfassung der Kronprinzen die Macht übernehmen soll. Folgende Aussage an den Senats- und den Parlamentsvorsitzenden wird König Idris zugeschrieben: „Ihr kennt eure Angelegenheiten am besten, also sucht nach dem Geeignetsten, denn ich bezweifle, dass der Kronprinz in der Lage ist, diese Aufgabe zu bewältigen.“ Dies ist Idris – der wusste, dass der Kronprinz nicht zum Regieren taugte – als Verdienst anzurechnen.
Der König war der Ansicht, dass die Monarchie für Libyen nicht geeignet ist und dass das Volk sie ablehnt. Er war entschlossen, das Land in eine Republik umzuwandeln.
Es wurde damals vermutet, dass ein Mitglied aus dem Schalahi-Clan Präsident der Republik werden würde, da zum einen der König dieses Amt seinem Kronprinzen nicht zutraute, und zum anderen der Senussi-Clan und der Schalahi-Clan zerstritten waren, da Ibrahim Schalahi, Diener und engster Vertrauter des Königs, von Muhyidin as-Senussi, Enkel von Achmad asch-Scharif (5), ermordet worden war.
Später gestand Abdulaziz asch-Schalahi während eines Verhörs durch Offiziere der Freien Unionisten – darunter Generalleutnant Mustafa al-Kharubi und Generalleutnant Khalifa Misbah –, dass der König ihnen zu verstehen gegeben hatte, dass sie nach seiner Abdankung und der Übergabe des Throns an den Kronprinzen – falls etwas schieflaufen sollte – „ihre Angelegenheiten selbst regeln“ könnten. Dies bedeutete laut Berichten der damals Anwesenden, dass der König grünes Licht für einen Staatsstreich gegeben hatte.
Diese Annahme war so weit verbreitet, dass der Journalist Mohammed Hassan Heikal 1969 nach seiner Landung in Libyen noch am Flughafen als erstes fragte: „Wo ist Bey asch-Schalahi?“. Er glaubte, dass es der asch-Schalahi-Clan war, der die Fatah-Revolution durchgeführt hatte.
Doch die erfolgreiche Revolution der Freien Unionisten machte die Pläne des Königs und des asch-Schalahi-Clans zunichte: Sowohl Abdulaziz asch-Schalahi als auch der Kronprinz wurden verhaftet.
Im Oktober 1969 trafen sich in Griechenland Idris as-Senussi, Abdullah Abed as-Senussi und Omar asch-Schalahi. Der Plan wurde geändert und Abdullah Abed as-Senussi zum Thronfolger bestimmt.
Dies wird durch die Dokumente des Senussi-Clans bestätigt und vom Sohn des ehemaligen Königs, Idris Abdullah Abed as-Senussi, noch heute so berichtet.
Was den Charakter von Abdullah Abed as-Senussi betrifft, so sprechen die jetzt veröffentlichten historischen Dokumente für sich. Die Libyer sollen die Wahrheit erfahren.“
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Anmerkungen der Autorin A.G.:
(1) Am 1. September 1969, der Tag des Putsches, hielt sich Idris as-Senussi zu
einem Kuraufenthalt in der Türkei auf.
(2) Wanis al-Gaddafi fungierte in der Monarchie von 1962 bis 1963 als libyscher
Außenminister und vom 4.9.1968 bis 31.8.1969 als libyscher Premierminister.
Nach der Revolution wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner
Freilassung lebte er bis zu seinem Tod 1986 in der Schweiz.
(3) Radschma: Ortschaft östlich von Bengasi
(4) Barqa: Region in der Kyrenaika
(5) Achmed asch-Scharif (1873-1933) war Anführer des libyschen
Senussiya-Ordens. Seine Tochter Fatimah war die Frau von König Idris.
(6) Mustafa bin Halim war vom 12. April 1954 bis zum 25. Mai 1957 libyscher
Premierminister
A. Gutsche
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