Die Massengräber von Tarhuna
Libyen/Tarhuna. Die Kaniyat-Miliz oder
warum in Libyen nichts so ist wie es scheint. Und keiner hinsieht, wenn es
opportun ist.
Ein sehr ähnlicher Artikel, allerdings mit einem anderen politischen Blick auf die Vorgänge in und um Tarhuna, erschien auf WarOnTheRocks von Jalel Harchaoui[2], dem das Manuskript des Ibn-Thabit-Artikels augenscheinlich zugespielt worden war.[3]
In diesem Beitrag stütze ich mich in der Hauptsache auf den Artikel von Ibn Thabit, da der Artikel von Jalel Harchaoui in großen Teilen auf einem Plagiat zu beruhen scheint, auf dessen Version sich sofort Libyen-Experten wie Wolfram Lacher zur Kommentierung stürzten.
Tarhuna im Jahr 2011
Tarhuna mit seinen etwa 40.000 Einwohnern befindet sich im Westen Libyens, etwa 60 Kilometer südöstlich von Tripolis[4]. Das Gebiet von Tarhuna beherbergt eine Vielzahl von Stämmen, die beim Nato-Krieg 2011 auf Seiten der Dschamahirija-Regierung und Gaddafis standen, so dass sie von deren Niederlage schwer getroffen wurden.
Die Entführung al-Hebschis als Wendepunkt
Nach Ende des Krieges war das Awfiya-Bataillon unter der Führung von al-Hebschi (Habshi/Hibshi) für die regionale Sicherheit verantwortlich. Die Sicherheitslage schien entspannt bis zu dem Zeitpunkt als im Juni 2012 al-Hebschi, dem Nähe zu General Haftar nachgesagt wurde, vermutlich von Milizen aus Misrata und Tripolis, die der Libyan Islamic Fighting Group (LIFG) nahestanden, entführt wurde und die Situation entgleiste.
Die Awfiya drangen nach Süd-Tripolis vor und konnten, unterstützt von Demonstranten, für wenige Stunden den Internationalen Flughafen von Tripolis in ihre Gewalt bringen. Nach Verhandlungen mit dem Übergangsrat in Tripolis erklärten sich die Awfiya gegen das Versprechen, die Entführung von al-Hebschi aufzuklären, bereit, den Flughafen zu räumen und nach Tarhuna zurückzukehren. Unnötig zu sagen, dass diese Entführung bis heute der Aufklärung harrt.
Die Entführung fand in der Region Qasr Ben Gashir statt, die von den Milizen al-Marghanis kontrolliert wurde, der seinerseits eng mit den salafistischen Milizen in Tripolis verbündet war. Obwohl die Untersuchung nie zu einem Abschluss kam, wurde als Hauptverdächtiger bei der Entführung der ehemalige Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, gehandelt.
Laut Ibn Thabit ist al-Hebschi am Leben und wird heute in der Stadt Misrata festgehalten.
Der Aufstieg des Kani-Clans
Die Awfiya-Miliz unter dem Nachfolger von al-Hebschi tötete im November 2012 Ali al-Kani und dessen Begleiter Kamal Ammar, die beide zu einer LIFG-Miliz unter dem Kommando des Afghanistan-Veteranen Abdualim as-Saadi gehörten. Die fünf Brüder des getöteten Ali al-Kani starteten zusammen mit ihrem mächtigen Marghani-Stamm eine Racheaktion, der jeder zum Opfer fiel, der mit dem Tod des Bruders in Verbindung gebracht wurde, einschließlich des Nachfolgers von al-Hebschi. In Folge dieser Fememorde kam es zu einem jahrelangen Krieg des Margahni-Stamms mit dem Stamm der Na’adscha.
Die Kani-Brüder, nun als Kaniyat wegen ihrer Skrupellosigkeit und Brutalität berüchtigt, bekamen Unterstützung vom Milizenführer al-Marghani und von as-Saadi, der gerade in den Allgemeinen Nationalkongress gewählt worden war. Sie profitierten von al-Marghanis Verbindungen zu den salafistischen Rada- und Nawasi-Milizen, die ihnen Zugang zu Waffen und Munition verschafften, und zu as-Saadis Verbindungen zu Khaled asch-Scharif von der LIFG, der stellvertretender Verteidigungsminister in der Regierung von Premierministers Ali Zidan war.
Während auch die Kani-Brüder 2011 gegen den Aufstand gegen Oberst Gaddafi waren, zeigten die komplett gesinnungsfreien Gewaltverbrecher jetzt keinerlei Skrupel, sich mit ihren pro-aufständischen islamistischen Schirmherren al-Marghani und as-Sa'adi zu verbünden.
2014: Das brutale Gewaltregiment der Kani-Brüder in Tarhuna
Als im Sommer 2014 in Tripolis der Krieg zwischen rivalisierenden Milizen aus Misrata und Zinten um die Kontrolle der Hauptstadt entbrannte, verschärften sich auch die Zusammenstöße zwischen den Kaniyat und ihrem Hauptrivalen, dem Na’adscha-Stamm, bis die Kaniyat die Herrschaft über Tarhuna erringen konnten.
In Tripolis tobte der Bürgerkrieg, da Khaled asch-Scharif von der LIFG sich weigerte, seinen Posten als stellvertretender Verteidigungsminister innerhalb der 'Heilsregierung', die unrechtmäßig die Macht in Tripolis an sich gerissen hatte, abzugeben.
Als es im November 2014 zu weiteren Zusammenstößen zwischen den Kaniyat und den Na'adscha kam, konnte nur noch das Eingreifen von Stammesführern die komplette Ausrottung der Na’adschas verhindern. Auch in den jetzt in Tarhuna gefundenen Massengräbern sind 24 der insgesamt 123 Leichen den Na’adschas zuzuordnen.
Die Kaniyat kosteten ihr Gewaltmonopol in Tarhuna aus, töteten und entführten nach Herzenslust. Eines der abscheulichsten Verbrechen der Kaniyat am 23. März 2015 war das Massaker an der Familie von Abu Adschayla al-Hebschi, die eine enge Beziehung zu Haftar unterhielt.
Der Kani-Clan konnte auch mit der 'Einheitsregierung' – solange das Geld stimmte
Die Ankunft der ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis am 31. März 2016 hat nicht nur nichts an diesen Gewaltexzessen geändert, sondern deren Premierminister Fajes as-Sarradsch besuchte im November desselben Jahres sogar Tarhuna, um dort den Grundstein für einen internationalen Flughafen zu legen, eine eindeutige Aufwertung der Kaniyat und ihrer Schreckensherrschaft.
Nicht einmal vier Monate später ermordeten die Kaniyat im Zuge einer Liquidierung Andersdenkender acht Mitglieder einer Familie. Den Kaniyat wird auch vorgeworfen, drei Frauen, darunter eine Schwangere, ermordet zu haben, nicht nur in der islamischen Welt ein besonders verachtenswertes Verbrechen.
Sarradsch und seine ‚Einheitsregierung‘ übten definitiv keine Kontrolle über diese Gebiete aus, konnten aber mit Milizen, die auf ihrer Seite standen, die dschihadistische ‚Heilsregierung‘ einschließlich asch-Scharif aus Tripolis vertreiben. Die ‚Heilsregierung‘ wich nach einem Zwischenstopp in Tarhuna nach Misrata aus.
Die Kaniyat – ein Mafia-Clan
Die Kaniyat entwickelten sich zu einem übermächtigen Mafia-Clan. Am 29. Juli 2017 griffen sie das Zementwerk Suk al-Khamis an, töteten vier Männer und entführten mehrere andere. Ab jetzt wurde von den Kaniyat jeder Zentner Zement besteuert.
Das ganz große Geld, wohl Hunderte Millionen, machten die Kaniyat allerdings mittels Kreditbetrug durch die Zentralbank in Tripolis. Dabei wurde der Unterschied zwischen dem offiziellen Wechselkurs und dem Schwarzmarktkurs des libyschen Dinars ausgenutzt und damit die Liquidität der libyschen Banken ruiniert.
Der nächste Schritt der Kaniyat war es, Ende August 2018 die Hauptstadt Tripolis anzugreifen. Unterstützung erhielten sie dabei vom international sanktionierten Milizenführer Salah Badi und von Politikern in Misrata, darunter der heutige, sich so staatstragend gebende Innenminister Fathi Bashagha, der 2018 die Regierung Sarradsch scharf kritisierte und ihr unter anderem die Nichteinhaltung des Skhirat-Abkommens von 2015 vorwarf. Der Angriff scheiterte, auch weil sich Misrata nicht auf Seiten der Kaniyat am Kampf beteiligte. Als Dank und auf Druck von Misrata wurde Fathi Bashagha im Oktober 2018 zum neuen Innenminister ernannt.
Schon im November 2018 besuchte Bashagha die Stadt Tarhuna, um Wirtschaftsfragen zu diskutieren. So aufgewertet schritten die Kaniyat erneut zur Rache und töteten die Frau von Salah al-Marghani, wobei Marghani selbst verletzt wurde. Selbstredend wurden die Kaniyat dafür von der ‚Einheitsregierung‘ nicht zur Verantwortung gezogen.
2019: Der Seitenwechsel zur LNA
Trotzdem gestalteten sich die Beziehungen zwischen der ‚Einheitsregierung‘ und den Kaniyat nicht nach Wunsch, da die staatlichen Institutionen und deren Gelder nun vom Tripolis-Milizenkartell kontrolliert wurden. Die Kaniyat kündigten die Freundschaft auf und erklärten 2019 ihre Unterstützung für General Haftar.
Als sich die LNA in Juni dieses Jahres aus Tarhuna zurückziehen musste, fielen die Milizen der ‚Einheitsregierung‘, unterstützt von der Türkei und syrischen Söldnern, plündernd und brandschatzend in die Stadt ein. Es kam zu mehreren Entführungen.
Die Massengräber von Tarhuna
Diese Milizen entdeckten auch acht Massengräber mit stark verwesten Leichen, die den Kaniyat zugeschrieben wurden. Human Rights Watch forderte die ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis dazu auf, die Untersuchung der Massengräber durch neutrale, internationale Gerichtsmediziner vornehmen zu lassen. Es soll geklärt werden, wie und wann die Opfer zu Tode kamen, ob sie Kriegsgefangene waren, die während der 15-monatigen Offensive in Tripolis gefangen genommen worden waren, oder ob sie zivile Opfer der Kaniyat waren, die seit über sechs Jahren ihre Schreckensherrschaft in Tarhuna ausübten.
Eine vorläufige Liste, die von libyschen Regierungsbeamten veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass die Mehrheit der Gefangenen zivile Opfer der Kaniyat waren, darunter viele Angehörige des rivalisierenden Stammes der Na'adscha.
Ob Dschihadisten, ‚Einheitsregierung‘, Moslembrüder, LNA – jeder hat vor den von den Kaniyat begangenen Verbrechen die Augen verschlossen, standen die Mordbuben erst einmal auf ihrer Seite. So fordert nicht nur Ibn Thabit eine längst überfällige Untersuchung der Verbrechen der Kaniyat, die zum Großteil in den Osten Libyens geflohen sind. Sie vor Gericht zu stellen, ist somit Sache der LNA-Führung.
Neue Milizen terrorisieren Tarhuna
Ibn Thabit endet: „In der Zwischenzeit sollten die in Tarhuna gefundenen Massengräber, so ungeheuerlich sie auch sind, nicht von den Verbrechen ablenken, die gegenwärtig an den noch lebenden Einwohnern Tarhunas begangen werden. Friedhöfe werden geschändet und angezündet, Häuser und Einkaufszentren wurden geplündert und zerstört, Bürger werden entführt, Fahrzeuge mit vorgehaltener Waffe entwendet und sogar elektrische Leitungen und Geräte werden gestohlen und in großen Mengen aus der Region verschifft. Wenn es wiederum nicht gelingt, die für die jetzigen Verbrechen verantwortlichen Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wird es diese ermutigen, weiterzumachen, so wie es bei den Kaniyat der Fall war.“
Anmerkung: Auch aus dieser Darstellung wird deutlich, dass eine völlig künstliche und willkürliche Teilung Libyens die Konflikte nur weiter verstärken würde. Libyen wurde durch die Nato-Intervention 2011 zu einem rechtsfreien Raum. Es kann erst wieder zur Ruhe kommen, wenn wieder ein staatliches, alle Landesteile umfassendes Gewaltmonopol geschaffen werden konnte.
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[4] https://gela-news.de/category/karten
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