Kurznachrichten Libyen - 11.09.2020
Libyen. Verhandelt wird in Marokko, Beschlüsse fallen in der Schweiz, Sarradsch-Delegation in Kairo
Optimismus bei Gesprächen im marokkanischen Bouznika - dazu kritische Stimmen
11.09.: In dem gemeinsamen Schlusskommuniqué des Hohen
Staatsrats in Tripolis und des Parlaments heißt es, dass die Sitzungen im
marokkanischen Bouznika in einer positiven Atmosphäre verlaufen seien. Explizit
wird in der Erklärung darauf hingewiesen, dass ausländische Einmischung zur
Verschärfung des Konflikts in Libyen beigetragen habe.
In einer Pressekonferenz erklärte der marokkanische Außenminister Nasser
Bourita, dass die Libyer selbst am besten in der Lage sind, die Interessen
ihres Landes zu vertreten und für Frieden und Stabilität zu sorgen. An die
Delegierten gewandt sagte er: „Sie haben bewiesen, dass die Libyer in der Lage
sind, auch ohne ausländische Hilfe Lösungen für ihre Probleme zu finden".
In den innerlibyschen Gesprächen ging es um die Bestimmung klarer Standards zur
Korruptionsbekämpfung und zur Beendigung der Spaltung der libyschen
Institutionen. Abdul-Salam al-Safrani, ein Führer der Muslimbruderschaft,
sagte, es sei bei der Neuvergabe von Posten bei sieben (von zehn) der libyschen
Institutionen eine Einigung erzielt worden.
Die Gespräche werden fortgeführt.
https://libyareview.com/?p=6418
https://almarsad.co/en/2020/09/09/al-safrani-sovereign-positions-should-be-filled-geographically-and-demographically/
Dagegen erklärte der Vorsitzende des Hohen Staatsrates, Khaled
al-Mishri, Mitglied der Partei für Gerechtigkeit und Aufbau der
Muslimbruderschaft (JCP), die Treffen in Marokko seien Konsultationen und
keinesfalls der Beginn eines Dialogs im engeren Sinne des Wort.
https://almarsad.co/en/2020/09/09/al-mishri-moroccos-meetings-are-mere-consultations-not-dialogue/
Innerhalb der 'Einheitsregierung' in Tripolis tobt ein Machtkampf zwischen Sarradsch und dem Innenminister und Moslembruder Fatih Bashagha, der von den Misrata-Milizen unterstützt wird. Deshalb dürfte es schwierig sein, Verhandlungsergebnisse in die Tat umzusetzen.
Und auch der radikale Kleriker Sadiq al-Ghariani meldet sich
zu Wort und hält die Marokko-Gespräche für Augenwischerei und eine abgekartete
Sache der Vereinten Nationen, denen daran gelegen ist, den Krieg in Libyen
fortzusetzen. Kein Problem in Libyen würde damit gelöst.
https://almarsad.co/en/2020/09/10/gharyani-dialogue-in-morocco-is-useless-and-un-wants-to-perpetuate-conflict/
Treffen von "wichtigen libyschen Interessengruppen" plus UN-Delegation in der Schweiz unter Ausschluss von Vertretern aus dem Osten
Die sogenannten Vertreter der „wichtigsten libyschen
Interessengruppen“, darunter die Muslimbruderschaft, haben in den vergangenen
drei Tagen ein Treffen in Montreux, Schweiz, abgehalten.
Das Treffen wird als Antwort auf das Hoffen der Libyer nach Stabilität und ein
menschenwürdiges Leben sowie auf die sich verschlechternde wirtschaftliche,
soziale und gesundheitliche Situation des libyschen Volkes dargestellt und
wurde vom sogenannten Zentrum für humanitären Dialog (HD) und in
Anwesenheit der UN-Sondermission für Libyen (UNSMIL) abgehalten. Es sollte als
„Vorbereitungsphase für eine umfassende Lösung" dienen, (d.h. es
stellt den Anfang einer weiteren Übergangsphase dar). Die Teilnehmer
wollen - und zwar ohne Vertreter aus dem östlichen Libyen - bestimmen, wie die
zukünftigen politischen Dialoge unter der Schirmherrschaft der UN-Sondermission
in Libyen auszusehen haben. Hierzu wurden sieben Punkte verabschiedet:
(Frage: Wer ist im Zentrum für humanitären Dialog vertreten und wie werden
dessen Mitglieder berufen?)
1. Die „Vorbereitungsphase für eine umfassende Lösung“ ist ein
Zeitraum, um die geeigneten Bedingungen für die Abhaltung der Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen innerhalb von achtzehn Monaten auf der Grundlage einer
vereinbarten Verfassungsregel zu schaffen.
(D.h. Wahlen wiederum auf den Nimmerleinstag verschieben und den Status quo
aufrecht erhalten!Gerade die Einigung auf eine Verfassung vor Wahlen dürfte in
der Praxis kaum möglich sein. Ein echter Verfassungsentwurf müsste aus
demokratisch gewählten Mehrheiten heraus zustande kommen.)
2. Umstrukturierung der Exekutivbehörde, um einen Präsidialrat aus einem
Präsidenten und zwei Abgeordneten sowie eine daraus zu bildende unabhängige
Regierung der nationalen Einheit zu bilden.
3. Mitglieder des Präsidialrates (Tripolis) und dem Vorsitzenden der
'Einheitsregierung' (Tripolis) wurden durch das Libysche Komitee für den
politischen Dialog ausgewählt und beauftragt, eine Regierung der
nationalen Einheit zu bilden, die die Einheit Libyens und seine geografische,
politische und soziale Vielfalt berücksichtigt und Vertrauen gewinnt.
(Wer gehört diesem Libyschen Komitee für den politischen Dialog an?
Wiederum nur Teilnehmer aus Tripolis?Wo sind die Vertreter des
libyschen Parlaments und der LNA?)
4. Bewertung und Weiterverfolgung der Arbeit der Exekutivbehörde und der
regelmäßigen Wahrnehmung ihrer Aufgaben durch den Libyschen Ausschuss für
den politischen Dialog.
5. Das Parlament und der Hohe Staatsrats sollen aufgefordert werden, sich
innerhalb angemessener Fristen auf die souveränen Positionen und den
Wahlprozess zu einigen.
(Was sind angemessene Fristen?)
6. Während der „Vorbereitungsphase für eine umfassende Lösung“ und zur
Wahrnehmung ihrer souveränen Aufgaben und sobald die Sicherheits- und
Logistikbedingungen erfüllt sind, Verlegung der Institutionen der Exekutive und
des Parlaments nach Sirte.
(Wer bestimmt, wann die Bedingungen erfüllt sind? Und nach der
Vorbereitungsphase?)
7. Es soll die Wichtigkeit der nationalen und sozialen Versöhnung betont
werden, indem illegale Inhaftierung und politische Verurteilung beendet werden,
das Amnestiegesetz für politische Gefangene aktiviert wird, die sichere
Rückkehr der Deportierten und Vertriebenen und das Recht auf Wiedergutmachung
ohne große Rechtsstreitigkeiten gewährleistet werden.
Der Hoffnungen auf eine baldige Wiederaufnahme des Ausschusses für den
politischen Dialog wurde Ausdruck gegeben. Die internationale Gemeinschaft
müsse ihre volle Verantwortung für die Gewährleistung der Stabilität in Libyen
und das Engagement aller libyschen Interessengruppen für die Resolutionen des
Sicherheitsrates zur libyschen Souveränität und die Unterstützung der libyschen
Politik übernehmen.
Gerade das Engagement der sogenannten 'internationalen
Gemeinschaft' seit Februar 2011 ist das Problem in Libyen!
Dieses Treffen genau dann abzuhalten, wenn in Marokko die Gespräche
zwischen Vertretern des Parlaments und dem Hohen Staatsrats laufen, ist schon
sehr dreist.
Es darf davon ausgegangen werden, dass wiederum solche Bedingungen und
Forderungen an die Vertreter des Parlaments und der LNA gestellt werden, die ohne
Selbstverleugnung unmöglich zu erfüllen sind, so dass der Status quo immer
weiter aufrechterhalten wird.
Delegation der 'Einheitsregierung' in Kairo
Eine hochkarätige Delegation der 'Einheitsregierung' ist zu
Gesprächen im ägyptischen Kairo eingetroffen, das bekannter Weise ja deren
Gegner, die Libysche Nationalarmee (LNA), unterstützt.
https://twitter.com/LibyaReview/status/1303344640502923264
Tatsächlich konnte die LNA Tripolis nicht erobern und die Türkei nicht
Sirte, d.h. die USA hat erfolgreich den Status quo aufrecht erhalten.
+ 09.09.: Der Sprecher der LNA al-Mismari sagte hierzu, dass
die Delegation der 'Einheitsregierung', die Kairo besucht, nicht befugt sei, die
Gesprächsergebnisse von Kairo in Libyen in die Tat umzusetzen, da den Milizen,
insbesondere in Misrata, keine Lösungen aufgezwungen werden könnten. Sarradsch
habe aus Angst um seinen Posten diese Delegation nach Kairo entsandt.
Laut Mismari bedeute der Waffenstillstand keinen Friedensschluss. Die Milizen
müssten ihre Waffen der LNA übergeben. Die LNA sei auch gegen jeden Angriff von
Milizen der 'Einheitsregierung' gewappnet.
https://almarsad.co/en/2020/09/10/al-mismari-gnas-militias-are-moving-towards-jufra-and-lna-is-ready/
Parlamentspräsident Aguila Saleh soll von EU-Sanktionsliste gestrichen werden
09.09.: Die Europäische Union plant, den libyschen
Parlamentspräsidenten Aguila Saleh von ihrer Sanktionsliste zu streichen. Damit
soll eine Friedenslösung in Libyen erleichtert und gleichzeitig die Bedeutung
der EU bei den Verhandlungen herausgestellt werden.
Seit 2016 steht Saleh auf der Sanktionsliste, da ihn die EU beschuldigt,
Friedensbemühungen zu behindern. Allerdings haben sich Russland und Ägypten bemüht,
das international anerkannte und demokratisch gewählte libysche Parlament
stärker in die Friedensverhandlungen einzubinden. Auch Frankreich, das in
starker Rivalität zu Deutschland und in Libyen auch zu Italien steht,
unterstützt das Parlament und die LNA. Nun wollen alle beteiligten EU-Staaten,
insbesondere Italien, Frankreich und Deutschland, ihre Einheit unter Beweis
stellen. Allerdings will Zypern alle EU-Sanktionsentscheidungen, die einstimmig
getroffen werden müssen, blockieren, bis nicht auch die Türkei wegen ihrer
Ölbohrungen vor der zypriotischen Küste sanktioniert ist.
Aufgehoben werden sollen auch die Sanktionen gegen Nouri Abusahmain (ehemaliger Präsident des libyschen Generalkongresses in Tripolis) sowie von Khalifa al-Ghwell (ehemaliger Premierminister der Regierung von Tripolis).
Sowohl das Parlament und dessen Präsident Aguila Saleh als
darauf folgend auch die 'Einheitsregierung' unter Sarradsch hatten sich für
einen Waffenstillstand ausgesprochen.
http://en.alwasat.ly/news/libya/294985
Saleh war in letzter Zeit an allen wichtigen Verhandlungen
beteiligt, auch wenn die westliche Presse immer nur vom "Warlord
Haftar" und nie vom gewählten und anerkannten Parlament und dessen
Präsidenten gesprochen hat. Dabei hatte eben dieses Parlament die LNA zur
libyschen Armee und Haftar zu ihrem Kommandanten erklärt. Doch statt
demokratische Prozesse zu unterstützen, zog es die EU vor, die islamistischen
Kräfte und Moslembrüder zu stärken, die sich nur durch brutale Gewalt in
Tripolis an der Macht halten können. Soweit zum Demokratieverständnis der EU!
Die EU will um jeden Preis bei der Regierungsbildung in Libyen ihren
Einfluss geltend machen. Sollen doch zukünftig alle Verträge, Öl- und
Gasexport, sowie EU-Importe und Aufbauprojekte, von einer willfährigen
libyschen Regierung mit den Staaten geschlossen werden, die für die Zerstörung
des Landes 2011 verantwortlich waren. Der Nato-Krieg gegen Libyen muss sich
doch endlich lohnen und die Rückkehr der Kolonialisten ermöglichen.
'Einheitsregierung' und internationale Gemeinschaft nicht an Abhaltung von Wahlen interessiert
09.09.: Der Leiter der Hohen Nationalen Wahlkommission (HNEC)
in Libyen, Emad ad-Din as-Sayeh, ist der Meinung, dass die 'Einheitsregierung'
versucht, die Arbeit der Wahlkommission zu unterlaufen. Obwohl das libysche
Wahlgesetz die politische Unabhängigkeit der Wahlkommission vorsehe, treffe die
'Einheitsregierung' die Entscheidungen bezüglich der Höhe des Budgets und des
Personals und bestimme somit über deren Arbeit. Etatkürzungen hätten zu
Personalkürzungen geführt, es würden aber mindestens noch 70 qualifizierte
Mitarbeiter benötigt, um die Wahlzentrale und 24 Verwaltungsbüros zur
landesweiten Vorbereitung der nächsten Wahlen ausstatten zu können. Jedes Jahr
sei das Budget weiter gekürzt worden, dies sei eine systematische und
willentliche Schwächung der Wahlkommission. Laut Sayeh unterstütze die
'Einheitsregierung' vordringlich Kommunalwahlen, während Gelder zur Information
der libyschen Wähler über Parteien und Kandidaten fehlten. Wahlen müssten den
internationalen Mindestanforderungen genügen, doch die 'Einheitsregierung'
komme den beim Skhirat-Abkommen eingegangenen Verpflichtungen nicht nach. Sayeh
über die Wahlbehörde: "Wir sind nicht gespalten und haben gute Beziehungen
zu allen politischen Parteien." Doch wenn das Budgets nicht erhöht wird,
werde die Wahlkommission ihre Arbeit einstellen und sich an das Parlament
wenden, um über das weitere Bestehen der Wahlkommission zu entscheiden."
Sayeh hält es für ausgeschlossen, dass die Marokko-Treffen zwischen dem
Parlament und der 'Einheitsregierung' tatsächlich zu Wahlen führen werden, denn
der UN-Sondermission für Libyen und der internationale Gemeinschaft kämen die
zu erwartenden Ergebnissen sehr ungelegen, da diese Kräfte andere Ziele als die
Sicherheit und politische Stabilität in Libyen verfolgen. Sayed: „Ich glaube
nicht, dass in naher Zukunft Wahlen stattfinden werden; das geht aus den
Treffen mit verschiedenen internationalen Akteuren hervor. In den Erklärungen
von Parlamentspräsident Aguila Saleh und des Präsidialrates wurde vereinbart,
in eine vierte Übergangsphase einzutreten, in der Verfassungsfragen entschieden
werden, um dann dauerhafte Stabilität zu erreichen, in der Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen stattfinden können. Viele Parteien schlagen ein
Verfassungsreferendum vor. Aber welche Verfassung? Die Verfassung der
Konstituierenden Versammlung von Libyen ist umstritten und die Erklärung von
Saleh ist klar: Bildung eines Ausschusses zur Überprüfung der Verfassung oder
Erstellung eines neuen Verfassungsentwurfs."
As-Sayeh unterstützt die Einführung einer E-Card für die Wahlen: "Die
kommenden Wahlen werden eine sehr hohe Wahlbeteiligung und einen starken
Wettbewerb aufweisen. Deshalb wollten wir u.a. einer Karte mit dem Fingerabdruck,
den persönlichen Daten und dem Bild des Wählers erstellen. Nur Besitzer dieser
E-Card können wählen".
https://almarsad.co/en/2020/09/09/al-sayeh-gna-undermines-the-elections-commission-because-it-fears-elections/
Verschiedenes
+ 11.09.: Auch in Bengasi fanden Demonstrationen gegen die
sich immer mehr verschlechternden Lebensbedingungen statt. Dabei wurden Straßen
blockiert und Reifen in Brand gesetzt.
https://www.addresslibya.co/en/archives/58869
+ Die türkische Regierung wird auf Twitter beschuldigt, nicht
nur mit dschihadistischen Organisationen wie dem IS zusammenzuarbeiten, sondern
selbst solche Terrororganisationen zu gründen. Dazu sei in der Region Aleppo
nahe der türkischen Grenze die Hamza-Miliz gegründet worden, angeblich um gegen
die Regierung Assad in Syrien zu kämpfen. Allerdings sei dabei nur der Name
arabisch, denn ein Türke sei zum Kommandanten ernannt worden, von dem
fälschlicher Weise behauptet wurde, er sei Syrer, der von der syrischen Armee
übergelaufen ist. Tatsächlich handle es sich um Seif Bulad Abu Bakr, den
ehemaligen IS-Kommandeur in der al-Bab-Region und jetziger Kommandeur der
Hamza-Miliz. Fotos belegen diese Beschuldigung.
https://twitter.com/GAITAMIMI1/status/1303733723741868034?s=20
+ 08.09.: Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte
gab bekannt, dass die Türkei den Sold für syrische Söldner von 2000 auf 800
US-$/Monat gesenkt hat. Es seien auch etliche Kämpfer nach Syrien rückgeführt
worden. Von den insgesamt 18.000 nach Libyen verbrachten Söldnern seien etwa
7.000 nach Syrien zurückgekehrt.
https://libyareview.com/?p=6350
+ Thomas Pany auf Telepolis: "US-Kriege seit
9/11: Mindestens 37 Millionen Flüchtlinge", darunter 1,2 Millionen Libyer
(das entspricht 19% der Vorkriegsbevölkerung). Hierbei handelt es sich um
"konservative Schätzungen".
Pany: "Die Angst vor Angriffen, die Zerstörungen der Wohnungen, das
Schwinden von Arbeitsmöglichkeiten, von Zugängen zu Nahrung, zu Schulen und
Krankenhäuser sind brutale, hässliche Konsequenzen von Kriegen."
https://www.heise.de/tp/features/US-Kriege-seit-9-11-Mindestens-37-Millionen-Fluechtlinge-4889620.html
Da sich die Grünen als Kriegspartei andienen und auch den Nato-Krieg gegen
Libyen freudig begrüßten, sind sie für alle, die sich einer Friedenspolitik
verpflichtet fühlen, unwählbar. Es bleibt zu hoffen, dass die Linke nicht den
gleichen Weg von der Friedens- zur Kriegspartei einschlägt.
11.09.2020
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