Politischer Prozess in Libyen entgleist
Libyen/LPDF. UN-Delegation gibt bei LPDF-Sitzung Wünschen der Moslembruderschaft nach – kein Konsens über verfassungsrechtliche Grundlagen von Dezemberwahlen erreicht
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Das Libysch-Politische Dialogforums (LPDF), das die Dezemberwahlen vorbereiten sollte, ist gescheitert und somit das politische Chaos perfekt. Weite Teile der politischen Blöcke lehnen ebenso wie die große Mehrzahl der Bevölkerung eine Verschiebung der für den Dezember versprochenen Wahlen ab. Es drohen öffentliche Proteste und ziviler Ungehorsam.
Vom 28. Juni bis 02. Juli tagte das LPDF-Gremium in Genf. Diskutiert werden sollte die Empfehlung des beratenden LPDF-Ausschusses, das Referendum über den Verfassungsentwurf auf die Zeit nach den für den 24. Dezember geplanten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu verschieben. Doch als ein neuer Antrag des Blocks der Moslembruderschaft zugelassen wurde, in dem die Verschiebung der Wahlen gefordert wurde, eskalierte die Situation.
Kritisiert wird vor allem das Verhalten der UN-Sondergesandten für Libyen (UNSMIL), die es der Fraktion der Moslembruderschaft und der regierenden GNU-‚Übergangs‘-Regierung ermöglichten, entgegen vorheriger Beschlüsse einen neuen Antrag einzubringen, in dem auf einem noch vor den Wahlen abzuhaltendem Verfassungsreferendum beharrt wird. Da dies in der Kürze der Zeit unmöglich zu realisieren ist, liefe dieses Ansinnen auf eine Verschiebung der Dezemberwahlen auf unbestimmte Zeit hinaus. Damit sind die versprochenen Wahlen zum 24. Dezember versenkt. Aus der Übergangs-GNU-Regierung droht eine auf unbestimmte Zeit im Amt bleibende Regierung unter Kontrolle der Moslembruderschaft und der Türkei zu werden.
Wieder einmal wurde unmissverständlich klar, auf welcher politischen Seite sich die UN-Sondermission positioniert hat und dass alle Versprechen von Wahlen zum 24. Dezember 2021 nichts als leeres Geschwätz waren.
Zum Ablauf der Geschehnisse
+ 30.06.: Internationale Parteien haben ebenso wie der UN-Sondergesandte
Kubis die LPDF-Mitglieder dazu aufgerufen „ihrer nationalen Verantwortung
gerecht zu werden und die verfassungsmäßige Grundlage und den gesetzlichen
Rahmen zu schaffen, um die Durchführung nationaler Wahlen zu ermöglichen.“
https://libyareview.com/14571/international-community-push-for-december-elections-in-libya/
+ 30.06.: Der UN-Sondergesandte Jan Kubis sprach mit Vertretern Frankreichs,
Deutschlands, Italiens, Großbritanniens und der USA. Er sagte, alle seien sich
über die Notwendigkeit einig, eine einvernehmliche verfassungsrechtliche
Grundlage zu schaffen und pünktlich am 24. Dezember 2021 Wahlen abzuhalten.
Der islamistische Block in der LPDF ist gegen direkte Präsidentschaftswahlen
und versucht mit verschiedenen Taktiken, die Wahlen insgesamt zu verzögern,
indem er auf einem Referendum über den Verfassungsentwurf besteht. Einige ihrer
Führer haben sogar verkündet, dass sie die Wahlergebnisse vom Dezember nicht
akzeptieren werden.
https://almarsad.co/en/2021/06/30/al-aradi-if-forum-does-not-agree-on-constitutional-basis-by-thursday-then-lpdf-must-dissolve/
+ 30.06.: 16 LPDF-Mitglieder veröffentlichten einen gemeinsamen Brief an
UNSMIL, in dem sie den neuen Versuch, die Wahlen zu behindern, verurteilten. In
der Erklärung heißt es: „In der heutigen Sitzung in Genf, die abgehalten wurde,
um einige der verbleibenden Punkte des letzten Treffens zu klären, wurden wir
davon überrascht, dass ein neuer Vorschlag auf dem Tisch lag, der unter
völliger Missachtung des Konsenses und der Bemühungen des Rechtsausschusses
formuliert wurde.“ Damit werde versucht, die öffentliche Meinung zu täuschen
und stelle eine klare Behinderung des Wahlprozess dar.
https://almarsad.co/en/2021/06/30/16-lpdf-members-issue-joint-letter-to-unsmil-denouncing-new-proposal-by-spoilers-to-obstruct-elections/
+ 30.06.: Angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen innerhalb des in
Genf tagenden LPDF und der Bemühungen der islamistischen und
Pro-GNU-Regierungsblöcke, die Wahlen zu sabotieren, indem auf einem
Verfassungsreferendum beharrt wird und die Verschiebung der Präsidentschafts-
und Parlamentswahlen gefordert wird, hat die Bewegung 24. Dezember
heute eine Erklärung herausgegeben, in der sie mit öffentlichen Protesten und
einer Kampagne des zivilen Ungehorsams droht, sollte der Wahltermin nicht
eingehalten werden. Jede Verlängerung der Amtszeit der
GNU-Übergangsregierung wird abgelehnt, der Verarmung des libyschen Volkes müsse
entgegengetreten und der Plünderung des Staatshaushaltes Einhalt geboten
werden.
https://almarsad.co/en/2021/06/30/december-24-movement-call-for-campaign-for-civil-disobedience-if-election-delayed/
01.07.: Der russische Außenminister Lawrow hat bei einem Gespräch mit dem
türkischen Außenminister Cavusoglu die Unterstützung Moskaus für eine
friedliche Lösung in Libyen unter UN-Schirmherrschaft bekräftigt. Er
sprach sich dafür aus, auch die Vertreter der ehemaligen Dschamahirija und der
Libyschen Nationalarmee einzubeziehen, damit der Konflikt gelöst werden könne.
Gaddafi-Anhänger hätten immer noch einen großen Einfluss innerhalb der
libyschen Bevölkerung.
Lawrow beschuldigte die Nato, die Schuld für die Zerstörung des libyschen
Staates aufgrund ihrer Intervention und Politik in Libyen seit 2011
mitzutragen.
https://libyareview.com/14585/moscow-libyan-army-gadaffi-regime-must-play-part-in-libyan-dialogue/
https://libyareview.com/14588/russian-foreign-minister-accuses-nato-of-destroying-libya/
+ 01.06.: Der Sayan-Stamm hat sich für die Wahl von Saif al-Islam Gaddafi,
Sohn des ermordeten Oberst Muammar al-Gaddafi, zum Präsidenten ausgesprochen.
Sie forderten die Vereinten Nationen auf, „den Willen des libyschen Volkes bei
der Wahl von Saif al-Islam durch direkte Wahlen ohne Einmischung von außen zu
respektieren“. Der Sayan-Stamm erklärte, dass er die Versuche der
„Moslembruderschaft und einiger einflussreicher Leute in der LPDF“ ablehne, ein
libysches politisches System zu etablieren, das „nur ihnen zugutekommt, und sie
weiterhin das Land regieren können“. In der Erklärung heißt es: „Die
Volksmassen in Libyen bekräftigen ihr Recht, ihre Führer, vertreten durch Saif
al-Islam, durch direkte Abstimmung zu wählen“. Sie forderten auch, dass Saif
al-Islam, sollte er zum Präsidenten gewählt werden, alle Befugnisse zur
Verwaltung des Staates erhalten soll, einschließlich den Oberbefehl über die
Streitkräfte.
https://libyareview.com/14603/libyan-tribes-show-support-for-gaddafis-son-in-expected-elections-3/
+ 02.07.: Laut der Bewegung 24. Dezember ist die UNSMIL dafür
verantwortlich, wenn Libyen vom Pfad des politischen Weges abweicht, da sie
eigennützigen Parteien erlaubt, die Wahlen am 24. Dezember zu behindern.
Die Bewegung droht damit, den Protest auf die Straße zu tragen und für das
Recht des libyschen Volkes auf fristgerechte Durchführung von Präsidentschafts-
und Parlamentswahlen zu dringen.
https://almarsad.co/en/2021/07/02/december-24-movement-rejects-extension-of-gnus-term-and-any-obstruction-to-december-elections/
+ 03.07.: Ahmed asch-Scharkasi, Mitglied des Beratenden Ausschusses
des LPDF, bezeichnete den Vorschlag, die für Dezember angesetzten Wahlen zu
verschieben, als ein „historisches Verbrechen“.
https://almarsad.co/en/2021/07/02/al-sharkasi-its-a-crime-to-tamper-with-the-december-elections/
+ 03.07.: Der UN-Sondergesandte für Libyen, Jan Kubis, wurde positiv auf
Covid-19 getestet, befindet sich bei guter Gesundheit, aber in Quarantäne. Die
LPDF-Gespräche konnte er nur aus der Ferne verfolgen.
https://libyareview.com/14653/united-nations-special-envoy-to-libya-tests-positive-for-covid-19/
+ 03.07.: LPDF-Teilnehmer, die sich für die Dezemberwahlen einsetzen, drohen
mit Eskalation und mit einem Antrag auf Aberkennung der
Menfi-Dabaiba-Listenwahl und somit der neuen GNU-Regierung, falls die UNSMIL
weiterhin Verstöße gegen die relevanten UNSC-Resolutionen und die politische
Roadmap durch jene Kräfte zulässt, die den Status quo aufrechterhalten wollen,
d.h. die Abhaltung von Wahlen im Dezember verhindern wollen.
Die UN-Sondermission für Libyen (UNSMIL) wird beschuldigt, gegen die
Resolution des UN-Sicherheitsrats und das Berlin-II-Abkommen zu verstoßen, da
sie beim LPDF auch die Verabschiedung eines Vorschlags genehmigte, der
ausschließlich Parlamentswahlen vorsieht.
https://twitter.com/LibyaReview/status/1410921697977450498
+ 03.07.: Ein Sprecher der LNA sagte, das LPDF habe es erwartungsgemäß nicht
geschafft, eine tragfähige Basis für die Wahlen zu erstellen. Die
LPDF-Teilnehmer seien ihren nationalen Verpflichtungen nicht nachgekommen und
hätten das libysche Volk enttäuscht, das seine demokratischen Rechte bei
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wahrnehmen möchte.
https://libyareview.com/14660/libyan-national-army-we-expected-the-geneva-talks-to-fail/
+ 03.07.: Zum gescheiterten LPDF-Treffen gaben die US-Botschaft und der
US-Sondergesandte Richard Norland eine Erklärung ab, in der es heißt, mehrere
LPDF-Mitglieder hätten versucht, „Giftpillen“ zu verabreichen, um die Abhaltung
von Wahlen zu verhindern. Sie hätten den Verfassungsprozess verlängern oder neue
Wahlbedingungen festlegen wollen.
https://almarsad.co/en/2021/07/03/us-embassy-several-lpdf-members-introduced-poison-pills-to-ensure-elections-would-not-be-held/
+ 03.07.: Der britische Guardian schreibt: „Die Bemühungen,
die Bedingungen für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Libyen am 24.
Dezember festzulegen, versinken im Chaos, da UN-Beamte beschuldigt werden, ihr
Mandat zu verletzen, indem sie Bemühungen unterstützten, die Wahlen zu
verhindern.“ Einigen Delegierten sei es von den UNSMIL erlaubt worden,
die Frage wieder aufzugreifen, ob es zuerst ein Referendum über eine Verfassung
geben sollte. „Das einwöchige Treffen außerhalb von Genf wurde als chaotisch
beschrieben, mit Delegierten, die sich fast geprügelt haben und Behauptungen
über bedrohliche WhatsApp-Nachrichten und politische Bestechung aufstellten. Ein
Großteil der Verhandlungen findet im Geheimen abseits des Hauptkonferenzortes
statt. An einem Punkt gaben verärgerte UN-Beamte zu, dass sie nicht in
der Lage sind, eine Lösung zu finden.“ Der UN werde vorgeworfen,
Vorschläge zu unterbreiten, die dazu dienten, die derzeitige Regierung im Amt
zu halten, was einen klaren Verstoß gegen die Roadmap darstelle.
https://www.theguardian.com/world/2021/jul/02/libya-election-plans-in-chaos-as-un-accused-of-breaching-mandate
+ 03.07.: Der ehemalige libysche UN-Botschafter Abdelrachman
Shalgham wies darauf hin, dass die Vereinheitlichung der Militär- und
Sicherheitsinstitutionen der einzige Ausweg sei, um alle Differenzen zu beenden
und den Frieden in dem vom Krieg zerrissenen Land wiederherzustellen.
https://libyareview.com/14663/former-libyan-foreign-minister-unifying-army-and-police-only-way-out-of-current-strife/
Bleibt noch anzumerken: Von Anfang war das von der UN ins Leben gerufene, mit handverlesenen 74 libyschen Teilnehmern bestückte und in Genf tagende LPDF eine Totgeburt, die nun mitsamt der durch Bestechung ins Amt gebrachten GNU-Regierung beerdigt werden sollte.
Bereits nach der Einsetzung des LPDF wurde im Januar 2021 davor gewarnt, dass die erneute Bildung einer sogenannten Übergangsregierung nur dazu beitragen wird „ein neues Kapitel der Spaltung und Fragmentierung zu schaffen, das den Interessen der in Libyen involvierten ausländischen Nationen dient.“ (Ramadan at-Tuwaidscher vom Komitee zur Ausarbeitung der Verfassung am 24.01.2021).[1]
[1] https://www.freitag.de/autoren/gela/kurznachrichten-libyen-26-01.2021
04.07.2021
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