Libyen ist eine funktionierende Stammesgesellschaft
Schon während der
italienischen Kolonisation des Landes in den Jahren 1911 bis 1945 als auch in
den Jahren nach dem NATO-Krieg 2011 sorgten die Stämme für den Zusammenhalt des
Landes und die Wiederherstellung von Frieden.
In einem Artikel beschäftigt sich nun auch der LibyaHerald mit der herausragenden
Bedeutung, die die libyschen Stämme während der gesamten Geschichte des Landes
hatten und haben.[1] In
Anbetracht des Libyen in den Grundfesten erschütternden NATO- und späteren
Bürgerkriegs erlangte eine Art Gewohnheitsrecht, im Arabischen Orf genannt, wieder große Bedeutung. Orf war die Rechtsgrundlage der
Stammesführer, um lokale, aber auch nationale Streitigkeiten zu schlichten.
Nachdem das libysche Staatswesen und seine Ordnungskräfte 2011 atomisiert
worden waren, konnte nur das Rechtssystem des Orf, das von so gut wie allen Libyern respektiert wird, das Land
vor dem totalen Zerfall retten.
Zwar brachen während des NATO-Kriegs 2011 alte
Stammesstreitigkeiten in voller Stärke aus, doch spielten schon bald die
Stammesführer mit ihrem Verhandlungsgeschick bei Friedensgesprächen eine
herausragende Rolle. Die Stammesführer, auch Scheichs oder Hukama
(Weise) genannt, konnten in geduldigen Verhandlungen nicht nur den Frieden
zwischen verfeindeten Stämmen wieder herstellen, sondern ihn auch
aufrechterhalten, während Kräfte von außen versuchten, weiterhin die Spaltung
des Landes zu betreiben und die Stämme gegeneinander aufzuhetzen.
Schon in der Gaddafi-Ära kam das Gesetz des Orf bei Strafprozessen zum Tragen und spielte
insbesondere in den entlegeneren Wüstengebieten, die dem Zugriff der
städtischen Justiz entzogen waren, eine große Rolle. Innerhalb der
Stammesgesellschaften sorgte der durch Orf
ausgeübte soziale Druck für den überlebensnotwendigen Zusammenhalt der
Gemeinschaft. Bei Streitigkeiten zwischen verschiedenen Stämmen konnten
blutrünstige Racheaktionen damit vermieden werden.
Bei einer Befragung im Jahre 2016 stimmten 60 Prozent der
Libyer der Aussage zu, dass die Stämme der Gemeinschaft Sicherheit garantieren
können. Ein Scheich sagte: „Wenn auch tausende Libyer im jetzigen Bürgerkrieg
ihr Leben verloren haben, so hat Orf
hunderttausenden das Leben gerettet.“ Egal, um welche Provinz, um welchen
Stamm, ob es sich um Ost-, Süd- oder Westlibyen handelt, Orf und Hukama werden
überall in gleicher Weise als Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens
respektiert.
Als Beispiel sei hier der Streit zwischen dem Zinten- und
dem Maschaschja-Stamm im Westen Libyens angeführt, der seit 2011 zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern der beiden Stämme
geführt hatte. Erst als ein Ältestenrat, zusammengesetzt aus zwölf Stämmen von
allen Landesteilen, die Mediation übernahm, konnte der Konflikt beigelegt
werden. Nachdem über ein Jahr verhandelt worden war, wurde am 18. Mai 2017 ein
Friedensabkommen unterzeichnet. Anschließend konnten von ihren Heimatorten
Vertriebene wieder in ihre Häuser zurückkehren, Schulen und Krankenhäuser ihren
Betrieb aufnehmen, Läden öffnen.
Doch auch im Osten des Landes, der Kyrenaika, spielte und
spielt Orf die bedeutendste Rolle bei
der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung. Über die Zeit nach dem Krieg
2011, als das Rechtssystem zusammenbrach und sich dschihadistische
Gruppierungen wie Ansar al-Scharia immer weiter ausbreiten konnten, sagte ein
Scheich vom Stamm der Twadschir: „Wir konnten nicht warten, bis es wieder eine
Regierung oder eine Armee zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung
gibt. Wir mussten schnell handeln.“ Auf Betreiben der Stammesführer und ihrer
Auffassung von Verantwortung für das Land trafen sich alle Stämme der Kyrenaika
am 15. April 2017 in der Stadt Asahel (300 km südwestlich von Bengasi), um Orf als das zeitweilig gültige
Rechtssystem zu kodifizieren.
Der sogenannte Ehrencodex
der Kyrenaika gilt seither als Richtlinie bei der Bestrafung von
Verbrechen oder Gewalttaten. So sollen Konflikte gelöst und der Frieden
aufrechterhalten werden. Orf erlangte
damit zum ersten Mal einen offiziellen Status, der das Sicherheitsvakuum
ausfüllen, Racheakte verhindern, Gewalt abwenden und den Libyern ein
Sicherheitsgefühl vermitteln soll. Orf
hat in der Kyrenaika gehalten, was es versprochen hat. Trotz des herrschenden
Bürgerkriegs wird zwischen den einzelnen Städten und Stämmen der Frieden
eingehalten, die Unruhen konnten sich von Bengasi nicht weiter ausbreiten.
Wer nicht sieht oder sehen will (wie beispielsweise der
gescheiterte UN-Vermittler Martin Kobler), welche wichtige Rolle die Stämme und
deren Gesetze in Libyen spielen, wer Orf
und Hukama missachtet, darf sich
nicht wundern, wenn ihm auf ewig fremdbleiben wird, auf welche Art und Weise
Libyen funktioniert.
Den libyschen Stämmen wird es gelingen, ihre Probleme zu
meistern, auch oder gerade ohne jede Einmischung von außen.
Angelika Gutsche
18.07.2017
[1] www.libyaherald.com/2017/07/13/op-ed-in-libya-only-one-system-of-law-is-functioning-and-its-not-state-law/
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