Montag, 21. Dezember 2020

Lockerbie: USA - erneut Anklage gegen Libyer

Libyen/USA/Lockerbie. Mit dieser abenteuerlichen erneuten Beschuldigung könnte ein posthumer Freispruch von al-Megrahi, der auch Libyen entlasten würde, erschwert werden.

Angelika Gutsche |

Die USA wollen erneut Anklage gegen einen libyschen Staatsbürger wegen des Verdachts der Teilnahme am Lockerbie-Bombenanschlag von 1988 erheben. Der in Libyen wegen anderer Vergehen in Haft genommene Abu Agila Mohammed Masud soll deshalb an die USA ausgeliefert werden.

Hinter diesen erneuten Beschuldigungen eines Libyers könnten ganz andere Gründe stehen, nämlich der Versuch einer Beeinflussung des Appelationsgericht in Schottland, das gerade den Fall des wegen Beteiligung am Lockerbie-Anschlag zu lebenslanger Haft verurteilten und inzwischen verstorbenen Libyers Abdelbaser Ali Mohmed al-Megrahi verhandelt, dessen Familie die Unschuld Megrahis durch neue Beweise bestätigt sieht.

Der Anwalt der libyschen Familie Megrahi machte auf die zeitliche Überschneidung aufmerksam und stellte fest: „Wenn das Urteil gegen Megrahi gekippt würde, bräche die ganze Anklage gegen Libyen zusammen“. Es wird befürchtet, dass die erneute Anklage eines Libyers Einfluss auf die Rechtsprechung im laufenden Berufungsprozess nehmen könnte.

Es wird seit langem behauptet, dass der Iran einen in Syrien ansässigen Palästinenser benutzte, um die Bombe zu bauen, die die Boeing 747 auf dem Weg von London nach New York zum Absturz brachte, als Rache für einen US-Marineangriff auf ein iranisches Zivilflugzeug, bei dem 290 Menschen getötet wurden. Daneben weisen etliche Aussagen und Spuren auch auf eine Beteiligung westlicher Geheimdienste an dem Bombenattentat.

Doch die USA nutzten damals die Beschuldigungen gegen Libyen und Gaddafi, um die UNO zu nötigen, weitreichende Sanktionen gegen Libyen zu verhängen, die dem Land Milliardenschäden verursachten. Erst als sich Libyen 2003 bereit erklärte, 2,7 Milliarden US-$ an die Hinterbliebenen der Opfer zu zahlen und die beiden beschuldigten libyschen Staatsbürger auszuliefern, wurden die UN-Sanktionen beendet.

Der damalige Hauptankläger hieß übrigens Bill Barr. Er wurde 2019 von Donald Trump wieder ins Justizministerium berufen. Letzten Montag, den 14.12.2020, trat Barr von seinem Posten zurück und wird sein Amt am 23.12.2020 aufgeben.

Heute äußert selbst der Vater eines der Anschlagsopfer Zweifel an der Beteiligung des nun beschuldigten Masuds: „Ich kann keine Verbindung zwischen diesen neuen Anschuldigungen und der Lockerbie-Geschichte sehen“, sagte Jim Swire, dessen Tochter Flora vor 32 Jahren bei dem Bombenanschlag getötet wurde. Swire glaubt nicht, dass Libyen in den Bombenanschlag verwickelt war. Er wünsche sich zusammen mit den anderen Opferfamilien, dass Gerechtigkeit geübt wird, wer auch immer die Täter sein mögen.

Der UN-Sicherheitsrat hatte am 31. März 1992 die Resolution 748 erlassen, die Libyen mit umfassenden Sanktionen bezüglich Luftfahrt, Technologietransfer und diplomatischen Vertretungen belegte. Am 11. November 1993 wurden die Sanktionen mittels der UN-Resolution 883 noch einmal verschärft: Staaten sollten Konten und Vermögenswerte Libyens und ihrer Repräsentanten einfrieren. Obwohl kein Ölembargo verhängt worden war, machten sich die Sanktionen für Libyen bitter bemerkbar, beeinträchtigten die weitere Entwicklung des Landes und hinterließen spürbaren Schaden in Wirtschaft und Gesellschaft. Libyen bestritt weiter hartnäckig, für den Flugzeugabsturz verantwortlich gewesen zu sein. Die Afrikanische Union (OAU) und die Arabische Liga (AL), auch die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) sowie die Bewegung der Blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement – NAM) stellten sich auf die Seite Libyens. Besonders die OAU berief sich dabei immer wieder auf die UN-Charta, in der die Pflicht zur Respektierung der Souveränität von Staaten und zur friedlichen Streitbeilegung festgeschrieben ist.

Im April 1999 erfolgte die Auslieferung der beiden Libyer al-Megrahi und Khalifa Fhimah an ein schottisches Sondergericht, worauf die UNO die gegen Libyen verhängten Sanktionen aussetzte. Im April 2003 erklärte sich Libyen bereit, die Verantwortung für die Handlungen der Libyer zu übernehmen und 2,7 Milliarden US-Dollar an die Hinterbliebenen der Opfer zu zahlen. Der UN-Sicherheitsrat hob daraufhin alle Sanktionen vollständig auf. Libyen hatte sich freigekauft. Shukri Ghanem, libyscher Premierminister in den Jahren 2003 bis 2006, sagte in mindestens zwei Radio- und Fernsehinterviews, dass Libyen für den Flugzeugabsturz nicht verantwortlich gewesen sei und die Abfindung nur deshalb gezahlt habe, „um Frieden zu erlangen und vorwärts zu kommen.“ Auch Gaddafis Sohn, Saif al-Islam, äußerte sich zwanzig Jahre später zu den Bekenntnissen: „Wir haben dem UN-Sicherheitsrat in einem Brief geschrieben, dass wir verantwortlich sind für das Handeln unserer Leute. Das heißt aber nicht, dass wir es auch waren… Ich gebe zu, wir haben mit Worten getrickst. Das mussten wir auch. Das ging nicht anders.“

Während im Januar 2001 Khalifa Fhimah freigesprochen wurde, befand das Gericht al-Megrahi für schuldig, eine Bombe in das PanAm-Flugzeug geschmuggelt zu haben und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft, aus der er 2009 wegen einer schweren Krebserkrankung entlassen wurde. Megrahi, der bis zu seinem Tod immer wieder seine Unschuld beteuerte, starb 2012 in Libyen.

Eine ZDF-Fernseh-Dokumentation zog 2013 Bilanz und stellte die Frage: „War der verurteilte Libyer Megrahi nur das Bauernopfer eines weltpolitischen Spiels westlicher Geheimdienste und Regierungen?“ Dieses Spiel findet 32 Jahre später seine abenteuerliche Fortsetzung.


https://uk.sports.yahoo.com/news/us-unseal-charges-against-lockerbie-114452452.html
https://www.freitag.de/autoren/gela/lockerbie-neues-berufungsverfahren
https://www.freitag.de/autoren/gela/lockerbie-schmierentheater-reloaded

 

 

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