Panik in Tunesien
Intervention in Libyen: Die sozialen Konflikte in Tunesien
werden durch die Vorgänge in Libyen weiter befeuert
In Tunesien kursieren Empfehlungen, wie angesichts der
unsicheren Lage in Libyen und der nicht vorauszusehenden Entwicklungen nach
einer westlichen Intervention im Nachbarland eine Notfallausrüstung aussehen
soll. Es wird empfohlen, für mindestens 72 Stunden die Versorgung mit Wasser,
Nahrungsmitteln, Medikamenten sicherzustellen, daneben sollte man damit
rechnen, dass für Tage oder sogar Wochen die Grundversorgung mit Elektrizität,
Gas, Wasser sowie die Kommunikationsmöglichkeiten unterbrochen sein könnten.
Tunesien blickt voller Anspannung auf den Moment, an dem
eine neue libysche „nationale Einheitsregierung“ um eine militärische
Intervention des Auslands bittet und in deren Folge eine internationale
Koalition sogar „boots on the ground“ setzen könnte. Dieses Thema wird vor
allem bei den stets gut informierten in Tunesien gestrandeten Exil-Libyern heiß
diskutiert. Libyen dürften also dramatische Geschehnisse bevorstehen.
Alles was in Libyen geschieht zeitigt auch in Tunesien eine
große Wirkung. Deshalb spricht sich das offizielle Tunesien strikt gegen eine
ausländische Intervention in Libyen aus. Sicherheitshalber hat der tunesische
Premierminister die Gouverneure in den südöstlichen Regionen dazu ermächtigt,
örtliche Komitees zu bilden, die Pläne für den Fall erstellen sollen, dass in
ihren Regionen Ausnahmesituationen eintreten. Denn sollten tatsächlich massive
Luftschläge gegen Libyen erfolgen, wird erwartet, dass mindestens eine weitere
Million libyscher Flüchtlinge die Grenze nach Tunesien überquert. Dies würde
Tunesien in eine unhaltbare Situation stürzen, denn einem solch plötzlichen
Anstieg der Bevölkerung um über ein Zehntel könnte das Land mit seinen
begrenzten Ressourcen, seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und politischer
Unsicherheit nicht standhalten.
Aber nicht nur Libyer würden nach Tunesien flüchten, auch
Dschihadisten, unter denen sich viele Tunesier befinden, würden die Grenze
überqueren. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass sich in Libyen
momentan etwa 6500 IS-Kämpfer aufhalten, also doppelt so viele als zunächst
angenommen. Dies steht in Zusammenhang mit dem Zurückdrängen des IS in Syrien,
deren Kämpfer zum Teil nach Libyen geflohen sind. Im Falle koordinierter
westlicher Angriffe auf den IS in Libyen würden diese Dschihadisten in
angrenzende Länder ausweichen, also vor allem nach Tunesien.
Natürlich kommen dschihadistische Kämpfer nicht nur aus
Libyen ins Land, sondern der IS ist in Tunesien auch hausgemacht. Die
Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die Polizei geht schon bei geringsten Vergehen
brutal gegen Jugendliche vor, ihre Zukunft in Tunesien bietet keine
Perspektive. Die Neue Züricher Zeitung schrieb schon 2014: „In urbanen Gebieten
an der gut entwickelten Küste ist die Arbeitslosigkeit in dieser
Alterskategorie [zwischen 15 und 29 Jahren] mit 23,6% zwar immer noch hoch,
doch wesentlich niedriger als in den ländlichen Gebieten des Südens, wo sie 47,9%
beträgt. Diese Zahlen umfassen alle jungen Tunesierinnen und Tunesier, die
weder studieren noch arbeiten, auch jene, welche es aufgegeben haben, einen Job
zu suchen. Nur gut 10% von ihnen sind offiziell arbeitslos gemeldet. Die
Jugendarbeitslosigkeit, einer der Auslöser der Revolution von 2011, ist seit
dem Sturz von Ben Ali noch gestiegen.“[1] Inzwischen dürften sich diese Zahlen noch
einmal beträchtlich erhöht haben.
Erst im Januar 2016 war es nach dem Tod eines jungen
Tunesiers zu Massenprotesten und schweren Unruhen im ganzen Land gekommen.
Zurückblieben ein toter Polizist, 40 verletzte Demonstranten und 59 verletzte
Polizeibeamte. Der Frust wegen der hohen Massenarbeitslosigkeit und dem
Ausbleiben von versprochenen neuen Jobs brach sich in Städten wie Tunis, Sidi
Bouzid, Guebeli, Kasserine, Jendouba und Bizerte Bahn. Polizeistationen wurden
in Brand gesetzt, Zufahrtsstraßen blockiert, Läden und Banken geplündert. Das
Innenministerium verhängte eine nächtliche Ausgangssperre und der
Ministerpräsident reiste vorzeitig vom Weltwirtschaftsgipfel in Davos ab.
Die gegen Touristen gerichteten Terroranschläge des Jahres
2015 haben den Tourismus, von dem viele Tunesier vor allem an der Küste
profitieren, empfindlich einbrechen lassen und Investoren vertrieben. Auch
Libyen als Ziel für Arbeitsemigranten bietet Tunesiern kein Auskommen
beziehungsweise Einkommen mehr. Viele Tunesier mussten aus Libyen zurückkehren
und vergrößerten so das immer weiter anwachsende Heer der Arbeitslosen. Kein
Wunder, dass sich unter diesen Umständen junge Männer vom IS anheuern lassen,
der gutes Geld bietet, den Menschen Lebenssinn und Würde verspricht.
Dazu kommt die Spaltung der tunesischen Gesellschaft in
einen säkularen und einen islamisch-religiösen Teil. Sollten sich die sozialen
Konflikte auf Dauer verschärfen, könnte dies auch in diesem Land zum Ausbruch
eines Bürgerkriegs führen. Alle Hoffnungen, die sich mit dem Sturz Ben Alis
verbanden, sind inzwischen verpufft. Die soziale Situation hat sich weiter
verschlechtert, die Sicherheitslage ist schlecht und befeuert wird diese
Entwicklung noch durch die Vorgänge im benachbarten Libyen. Die Angst geht um.
Tritt die befürchtete Intervention in Libyen ein und würde
sich in deren Folge der IS auch in Tunesien immer mehr festsetzen, was soll
dann als nächstes geschehen? Wollen die USA, Großbritannien und Frankreich auch
Tunis, Kairouan, Sfax oder Gafsa bombardieren? Flüchten dann die IS-Kämpfer
weiter nach Algerien und wird so das nächste Land destabilisiert? Das Gebiet um
den Dschebel Chambi an der Grenze zu Algerien ist schon heute Rückzugsgebiet
für IS-Kämpfer und so wird befürchtet, dass Algerien das nächste Ziel des IS
sein könnte. Der billige Ölpreis beutelt auch dieses Land, auch hier ist die
Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen extrem hoch und sind die Aussichten auf
eine Besserung der Lage nicht in Sicht.
Sowohl französische wie britische Medien berichten, dass die
USA, Frankreich und Großbritannien seit Monaten mittels Satelliten-, Drohnen-
und Flugzeugaufklärung den Luftkrieg gegen den IS in Libyen vorbereiten. Am 19.
Februar haben die USA einen ersten Angriff auf das nahe der tunesischen Grenze
gelegene Sabratha geflogen, wobei mehr als 40 Kämpfer des IS getötet worden
sein sollen, darunter auch ein an den Anschlägen in Tunesien beteiligter
hochrangiger Dschihadist namens Noureddine Chochane. Allerdings meldete der
Österreichische „Standard“, dass laut dem Bürgermeister von Sabratha die Flugzeuge
gegen 3.30 Uhr Ortszeit gekommen seien und ein Gebäude im Stadtbezirk Kasr
Talil bombardiert hätten, in dem ausländische Arbeiter wohnten.[2] Unter den Toten seien auch zwei Frauen
gewesen.
Der Tanz hat begonnen.
[1]
http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/von-meinungsfreiheit-kann-man-nicht-leben-1.18544675
Angelika Gutsche, 28.2.2016
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen