Dienstag, 1. März 2016



Panik in Tunesien

Intervention in Libyen: Die sozialen Konflikte in Tunesien werden durch die Vorgänge in Libyen weiter befeuert 

In Tunesien kursieren Empfehlungen, wie angesichts der unsicheren Lage in Libyen und der nicht vorauszusehenden Entwicklungen nach einer westlichen Intervention im Nachbarland eine Notfallausrüstung aussehen soll. Es wird empfohlen, für mindestens 72 Stunden die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln, Medikamenten sicherzustellen, daneben sollte man damit rechnen, dass für Tage oder sogar Wochen die Grundversorgung mit Elektrizität, Gas, Wasser sowie die Kommunikationsmöglichkeiten unterbrochen sein könnten.
Tunesien blickt voller Anspannung auf den Moment, an dem eine neue libysche „nationale Einheitsregierung“ um eine militärische Intervention des Auslands bittet und in deren Folge eine internationale Koalition sogar „boots on the ground“ setzen könnte. Dieses Thema wird vor allem bei den stets gut informierten in Tunesien gestrandeten Exil-Libyern heiß diskutiert. Libyen dürften also dramatische Geschehnisse bevorstehen.
Alles was in Libyen geschieht zeitigt auch in Tunesien eine große Wirkung. Deshalb spricht sich das offizielle Tunesien strikt gegen eine ausländische Intervention in Libyen aus. Sicherheitshalber hat der tunesische Premierminister die Gouverneure in den südöstlichen Regionen dazu ermächtigt, örtliche Komitees zu bilden, die Pläne für den Fall erstellen sollen, dass in ihren Regionen Ausnahmesituationen eintreten. Denn sollten tatsächlich massive Luftschläge gegen Libyen erfolgen, wird erwartet, dass mindestens eine weitere Million libyscher Flüchtlinge die Grenze nach Tunesien überquert. Dies würde Tunesien in eine unhaltbare Situation stürzen, denn einem solch plötzlichen Anstieg der Bevölkerung um über ein Zehntel könnte das Land mit seinen begrenzten Ressourcen, seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und politischer Unsicherheit nicht standhalten.
Aber nicht nur Libyer würden nach Tunesien flüchten, auch Dschihadisten, unter denen sich viele Tunesier befinden, würden die Grenze überqueren. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass sich in Libyen momentan etwa 6500 IS-Kämpfer aufhalten, also doppelt so viele als zunächst angenommen. Dies steht in Zusammenhang mit dem Zurückdrängen des IS in Syrien, deren Kämpfer zum Teil nach Libyen geflohen sind. Im Falle koordinierter westlicher Angriffe auf den IS in Libyen würden diese Dschihadisten in angrenzende Länder ausweichen, also vor allem nach Tunesien.
Natürlich kommen dschihadistische Kämpfer nicht nur aus Libyen ins Land, sondern der IS ist in Tunesien auch hausgemacht. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die Polizei geht schon bei geringsten Vergehen brutal gegen Jugendliche vor, ihre Zukunft in Tunesien bietet keine Perspektive. Die Neue Züricher Zeitung schrieb schon 2014: „In urbanen Gebieten an der gut entwickelten Küste ist die Arbeitslosigkeit in dieser Alterskategorie [zwischen 15 und 29 Jahren] mit 23,6% zwar immer noch hoch, doch wesentlich niedriger als in den ländlichen Gebieten des Südens, wo sie 47,9% beträgt. Diese Zahlen umfassen alle jungen Tunesierinnen und Tunesier, die weder studieren noch arbeiten, auch jene, welche es aufgegeben haben, einen Job zu suchen. Nur gut 10% von ihnen sind offiziell arbeitslos gemeldet. Die Jugendarbeitslosigkeit, einer der Auslöser der Revolution von 2011, ist seit dem Sturz von Ben Ali noch gestiegen.“[1] Inzwischen dürften sich diese Zahlen noch einmal beträchtlich erhöht haben.
Erst im Januar 2016 war es nach dem Tod eines jungen Tunesiers zu Massenprotesten und schweren Unruhen im ganzen Land gekommen. Zurückblieben ein toter Polizist, 40 verletzte Demonstranten und 59 verletzte Polizeibeamte. Der Frust wegen der hohen Massenarbeitslosigkeit und dem Ausbleiben von versprochenen neuen Jobs brach sich in Städten wie Tunis, Sidi Bouzid, Guebeli, Kasserine, Jendouba und Bizerte Bahn. Polizeistationen wurden in Brand gesetzt, Zufahrtsstraßen blockiert, Läden und Banken geplündert. Das Innenministerium verhängte eine nächtliche Ausgangssperre und der Ministerpräsident reiste vorzeitig vom Weltwirtschaftsgipfel in Davos ab.
Die gegen Touristen gerichteten Terroranschläge des Jahres 2015 haben den Tourismus, von dem viele Tunesier vor allem an der Küste profitieren, empfindlich einbrechen lassen und Investoren vertrieben. Auch Libyen als Ziel für Arbeitsemigranten bietet Tunesiern kein Auskommen beziehungsweise Einkommen mehr. Viele Tunesier mussten aus Libyen zurückkehren und vergrößerten so das immer weiter anwachsende Heer der Arbeitslosen. Kein Wunder, dass sich unter diesen Umständen junge Männer vom IS anheuern lassen, der gutes Geld bietet, den Menschen Lebenssinn und Würde verspricht.
Dazu kommt die Spaltung der tunesischen Gesellschaft in einen säkularen und einen islamisch-religiösen Teil. Sollten sich die sozialen Konflikte auf Dauer verschärfen, könnte dies auch in diesem Land zum Ausbruch eines Bürgerkriegs führen. Alle Hoffnungen, die sich mit dem Sturz Ben Alis verbanden, sind inzwischen verpufft. Die soziale Situation hat sich weiter verschlechtert, die Sicherheitslage ist schlecht und befeuert wird diese Entwicklung noch durch die Vorgänge im benachbarten Libyen. Die Angst geht um.
Tritt die befürchtete Intervention in Libyen ein und würde sich in deren Folge der IS auch in Tunesien immer mehr festsetzen, was soll dann als nächstes geschehen? Wollen die USA, Großbritannien und Frankreich auch Tunis, Kairouan, Sfax oder Gafsa bombardieren? Flüchten dann die IS-Kämpfer weiter nach Algerien und wird so das nächste Land destabilisiert? Das Gebiet um den Dschebel Chambi an der Grenze zu Algerien ist schon heute Rückzugsgebiet für IS-Kämpfer und so wird befürchtet, dass Algerien das nächste Ziel des IS sein könnte. Der billige Ölpreis beutelt auch dieses Land, auch hier ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen extrem hoch und sind die Aussichten auf eine Besserung der Lage nicht in Sicht.
Sowohl französische wie britische Medien berichten, dass die USA, Frankreich und Großbritannien seit Monaten mittels Satelliten-, Drohnen- und Flugzeugaufklärung den Luftkrieg gegen den IS in Libyen vorbereiten. Am 19. Februar haben die USA einen ersten Angriff auf das nahe der tunesischen Grenze gelegene Sabratha geflogen, wobei mehr als 40 Kämpfer des IS getötet worden sein sollen, darunter auch ein an den Anschlägen in Tunesien beteiligter hochrangiger Dschihadist namens Noureddine Chochane. Allerdings meldete der Österreichische „Standard“, dass laut dem Bürgermeister von Sabratha die Flugzeuge gegen 3.30 Uhr Ortszeit gekommen seien und ein Gebäude im Stadtbezirk Kasr Talil bombardiert hätten, in dem ausländische Arbeiter wohnten.[2] Unter den Toten seien auch zwei Frauen gewesen.
Der Tanz hat begonnen.

[1] http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/von-meinungsfreiheit-kann-man-nicht-leben-1.18544675


Angelika Gutsche, 28.2.2016

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