Keine Weihnachtsgeschichte: Im Gedenken an Mouataz
Libyen. Wie die NATO
in Libyen immer noch tötet – von Miriam al-Fatah
Ich habe Muataz irgendwann im Jahr 2015 kennen gelernt,
eines der vielen Kinder eines lieben Freundes und Mentors. Muataz war ein sehr
lebhafter Junge, der immer lächelte. Eine seiner Lebensaufgaben bestand darin,
unser zerstörtes Land mit einem bitteren Sinn für Humor zu betrachten. Der
junge Mann, der nichts außer Gott fürchtete, war der Sonnenschein seiner
Familie. Für seine Freunde ein Spaßmacher. Hatte jemand in seiner Familie oder
von seinen Freunden Sorgen, Kummer oder auch nur schlechte Laune, gelang es ihm
immer, sie zum Lachen zu bringen, so sehr, bis die Tränen kamen.
Muataz war auf alles neugierig und wollte auch verstehen, was
mit unserem Land passiert war und warum es passiert war. Es war die Zeit, als
sein Vater ihn mir vorstellte und er anfing, Fragen zu stellen: Warum sprichst
du gebrochen arabisch? Bist du keine Libyerin? Warum bist du ins Ausland
gegangen? Wie ist das Leben im Ausland? Könnte ich mich im Ausland
durchschlagen, falls ich reisen würde? Kann ich im Ausland studieren? Er war
ein äußerst wissbegieriger junger Mann, voller Lebensfreude. Dann kam eines
Tages sein Anruf: Ob ich seiner Mutter helfen könnte?
Seine Mutter sei sehr krank und in den Krankenhäusern in
Libyen könne man nichts für sie tun. Ob ich einen Spezialisten finden könnte?
Als ich einen Spezialisten ausfindig gemacht hatte, bat ich
ihn, eine Einladung an die deutsche Botschaft in Tunis zu schicken, damit die
Mutter aus gesundheitlichen Gründen und wegen einer dringenden Operation
ausreisen durfte. Zu dieser Zeit wusste Muataz noch nicht, dass auch er bald
wegen einer Gehirnoperation nach Europa reisen sollte.
Die deutschen, italienischen, französischen und englischen
Botschaften in Tunis verlangen von einem Libyer folgende Unterlagen, damit er
ins Ausland reisen kann: einen Kontoauszug, Arbeits- und
Verdienstbescheinigungen, Nachweise des Familienstandes und der Vermögenswerte,
Rückflugticket, Nennung der Höhe des mitgeführten Bargelds und den Namen des
Hotels während des Auslandsaufenthalts, Angabe des Reiseanlasses (auch wenn sie
sehen, dass man bereits im Sterben liegt, wollen sie noch den Grund für die
Reise wissen). Dann muss man für die 15-Tage-Wartezeit, die die
Antragsbearbeitung dauert, 600 Euro zahlen. Neunzig Prozent der Anträge werden
abgewiesen, vor allem dann, wenn man keinen Wohnsitz in Europa hat.
Ich ließ alle meine Verbindungen spielen, die ich in Europa
hatte, um seine Mutter holen zu können. Aber dank F.U.K.US [Frankreich, United Kingdom, USA] ist es
Libyern, die nicht der Moslembruderschaft oder der UN-gestützten Regierung
angehören oder aus Misrata sind, unmöglich ins Ausland zu reisen, außer man hat
einen Wohnsitz in Europa. Ich war so wütend, dass ich nichts für seine Mutter,
die einen Schlaganfall erlitten hatte, tun konnte. Ihr Ehemann und andere
Freunde versuchten zusammen mit mir, alles in ihrer Macht stehende für sie zu
tun. Aber für einen Libyer ist es nicht einmal aus gesundheitlichen Gründen
möglich, eine Reise zu unternehmen. Dafür hat die NATO gesorgt. Sie hat die
meisten unserer Krankenhäuser zerstört, ebenso wie neunzig Prozent der
Infrastruktur. Aber am schlimmsten ist, dass sie sich mit al-Kaida, dem IS und
anderen Fanatikern verbündet hat, die jetzt unser Land regieren, und die uns
des Respekts, unserer Würde und unserer Freiheit beraubt haben.
Im November 2016 rief mich Muataz an, um mir zum Geburtstag
zu gratulieren und mich daran zu erinnern, dass es Zeit sei, nach Hause – nach
Libyen – zu kommen, wo ich schon so lange nicht mehr gewesen war. Ich versprach
ihm, dass ich meinen Vater, der eine schwere Operation hinter sich hatte,
sobald er wieder reisefähig sei, nach Tripolis begleiten werde. Ich würde mich
dann mit ihm und seinen Schwestern verabreden. Der 5. Dezember sollte das Datum
unserer Rückreise sein und ich wollte die Geschwister am nächsten Tag treffen.
Zum letzten Mal telefonierten wir am 13. November 2016 miteinander. Da ich
wusste, dass Muataz an der Universität viel zu tun hatte, achtete ich nicht
besonders darauf, dass ich eine ganze Woche nichts von ihm hörte. Zu meiner
Entschuldigung muss ich sagen, dass ich auch sehr mit meinem Vater beschäftigt
war, dem es nicht gut ging, und ich deshalb nicht so viel Zeit zuhause und im
Internet verbrachte.
Um den 1. Dezember rief ich Muataz Vater an. Ich wollte
wissen, ob mit der Familie alles in Ordnung sei. Ja, alles sei in Ordnung, nur
Muataz habe seit einigen Tagen schreckliche Kopfschmerzen. Ich fragte, ob sie
schon beim Arzt gewesen sind und der Vater meinte, sie würden in den nächsten
Tagen gehen. Auch das nahm ich nicht sehr ernst, ich dachte, dass Muataz‘
Kopfschmerzen vom stressigen Leben in Tripolis herrührten. Tripolis ist keine
leichte Stadt zum Leben, besonders wenn es unter der Herrschaft der
Moslembruderschaft, der UN-gestützten Regierung und Misrata-Milizen steht.
Jeder muss vorsichtig sein, egal, ob er Pro-Gaddafi ist oder nicht.
Am 15. Dezember rief mich Muataz‘ Vater an und sagte mir,
mit seinem Sohn gebe es ein Problem. In seinem Gehirn seien Aneurysmen[1]
gefunden worden. Es war für mich ein Schock, der mich sprachlos machte. Ich
fand keine Worte, um seinem Vater und der ganzen Familie mein Mitgefühl
auszudrücken. Doch bat ich seinen Vater, der sich zu dieser Zeit nicht in
Tripolis aufhielt, mir Muataz‘ gesamte Krankenunterlagen aus der Klinik in
Tripolis zuzusenden. Ich wollte einen Gehirnchirurgen ausfindig machen, der
nach Tripolis reisen sollte, um Muataz dort zu operieren. Sein Vater erklärte mir,
in Tripolis würde niemand Muataz operieren, bevor nicht die Gehirnschwellung
zurückgegangen sei. Wir müssten warten, bis die Schwellung abgeklungen ist. Gab
es keine Möglichkeit, ihn mit dem Flugzeug zu mir nach Europa zu bringen? Sein
Vater sagte, keine Botschaft würde ihm ein Schengen-Visum ausstellen, aus
Angst, er könnte in Europa um Asyl bitten... Ich sagte, ich werde die Botschaft
anrufen.
Mit Sicherheit möchtest du nicht wirklich wissen, wie das
Gespräch mit der Botschaft verlief. Was ich aus dem Gespräch heraushörte war,
dass unsere neuen Kolonialmächte tatsächlich eine entsprechende Anweisung
erlassen haben. Ich gab nicht auf. Ich sprach mit dem Gehirnchirurgen. Ich
fragte ihn, ob er dem Arzt in Tripolis über Skype bei der Operation helfen würde.
Der Arzt zögerte. Er kannte mich aber bereits von der Behandlung meines Vaters
und wusste, dass ich ein Nein nicht akzeptieren würde und stimmte unter der
Bedingung zu, dass ich rechtzeitig nach Tripolis und zu Muataz fahren würde.
Ich konnte ihm versichern, dass alles bereits vorbereitet sei und ich und meine
Familie am 21. Dezember 2016 fliegen werden.
Bei dem Gespräch, das ich vor der Abreise mit Muataz‘ Vater
führte, sagte er mir, Muataz sei in ein künstliches Koma versetzt worden. Als
ich ihn fragte, wo er, der Vater, sei, sagte er, er werde nicht in die Klinik
kommen können, um seinen Sohn zu sehen. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er zu
mir, „die ganze Familie wartet morgen auf dich, auch der Arzt ist da. Er wird
dir die Situation erklären.“
Am nächsten Tag flogen wir nach Tripolis. Wir mussten über
Istanbul fliegen, das ist die einzige Möglichkeit, mit dem Flugzeug nach
Tripolis zu kommen. Gegen 19 Uhr landeten wir. Noch während wir auf das Gepäck
warteten, rief ich Muataz‘ Vater an, um zu erfahren, in welche Klinik sein Sohn
ist.
„Es tut mir so leid dir sagen zu müssen, dass mein Sohn
Muataz wenige Stunden vor deiner Landung in Tripolis gestorben ist.“
Wie angewurzelt blieb ich stehen. „Was? Du sagtest doch, es
geht ihm gut. Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht. Du musst meine Tochter anrufen. Sie wird
dir alles erzählen. Sie haben auf dich gewartet. Aber jetzt sind sie nach Hause
gegangen.“
Alles, was ich dem Vater, der nicht an der Seite seines
geliebten, im Sterben liegenden Sohnes sein durfte, sagen konnte, war, wie leid
es mir tut. Dann hängte ich ein.
Das alles wäre nie passiert, wenn nicht Obama, Hillary,
Cameron, Sarkozy, Erdogan, Katar und alle anderen arabischen Staaten, in einem
illegalen Krieg ein souveränes Land angegriffen hätten. Muatez wäre immer noch
am Leben.
Hätten diese Ungeheuer Libyen nicht in die Steinzeit
zurückgebombt, würden wir noch immer Krankenhäuser haben und nicht in
Straßenbaracken jede Art von Operation durchführen müssen.
Ich weiß, was du sagen willst. Es ist nicht nur Libyen
zerstört worden, sondern auch Syrien und der Jemen. Erst heute meldete man,
dass im Jemen über eine Million Menschen an Cholera erkrankt sind. Es stimmt,
auf der ganzen Welt und besonders im Nahen Osten werden Länder verwüstet. Aber
zumindest können andere Araber noch reisen. Es gibt in den Ländern noch
Botschaften. Und es existieren keine Anweisungen, die allen Arabern das Reisen
verbieten. Libyen ist weltweit das einzige Land, in dessen Hauptstadt Tripolis
es keine Botschaften und in Bengasi kein Konsulat mehr gibt. Nur Libyen leidet
unter dieser Art von Restriktionen.
Nun grüße ich meinen lieben Freund Muataz. Möge er in
Frieden ruhen.
https://libyaagainstsuperpowermedia.org/2017/12/21/in-remembrance-of-mouataz-21-12-2016-another-heinous-crime-from-nato-and-f-u-k-us/
Übersetzung: A. Gutsche
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