Freitag, 29. Dezember 2017



Keine Weihnachtsgeschichte: Im Gedenken an Mouataz

Libyen. Wie die NATO in Libyen immer noch tötet – von Miriam al-Fatah

Ich habe Muataz irgendwann im Jahr 2015 kennen gelernt, eines der vielen Kinder eines lieben Freundes und Mentors. Muataz war ein sehr lebhafter Junge, der immer lächelte. Eine seiner Lebensaufgaben bestand darin, unser zerstörtes Land mit einem bitteren Sinn für Humor zu betrachten. Der junge Mann, der nichts außer Gott fürchtete, war der Sonnenschein seiner Familie. Für seine Freunde ein Spaßmacher. Hatte jemand in seiner Familie oder von seinen Freunden Sorgen, Kummer oder auch nur schlechte Laune, gelang es ihm immer, sie zum Lachen zu bringen, so sehr, bis die Tränen kamen.
Muataz war auf alles neugierig und wollte auch verstehen, was mit unserem Land passiert war und warum es passiert war. Es war die Zeit, als sein Vater ihn mir vorstellte und er anfing, Fragen zu stellen: Warum sprichst du gebrochen arabisch? Bist du keine Libyerin? Warum bist du ins Ausland gegangen? Wie ist das Leben im Ausland? Könnte ich mich im Ausland durchschlagen, falls ich reisen würde? Kann ich im Ausland studieren? Er war ein äußerst wissbegieriger junger Mann, voller Lebensfreude. Dann kam eines Tages sein Anruf: Ob ich seiner Mutter helfen könnte?

Seine Mutter sei sehr krank und in den Krankenhäusern in Libyen könne man nichts für sie tun. Ob ich einen Spezialisten finden könnte?
Als ich einen Spezialisten ausfindig gemacht hatte, bat ich ihn, eine Einladung an die deutsche Botschaft in Tunis zu schicken, damit die Mutter aus gesundheitlichen Gründen und wegen einer dringenden Operation ausreisen durfte. Zu dieser Zeit wusste Muataz noch nicht, dass auch er bald wegen einer Gehirnoperation nach Europa reisen sollte.

Die deutschen, italienischen, französischen und englischen Botschaften in Tunis verlangen von einem Libyer folgende Unterlagen, damit er ins Ausland reisen kann: einen Kontoauszug, Arbeits- und Verdienstbescheinigungen, Nachweise des Familienstandes und der Vermögenswerte, Rückflugticket, Nennung der Höhe des mitgeführten Bargelds und den Namen des Hotels während des Auslandsaufenthalts, Angabe des Reiseanlasses (auch wenn sie sehen, dass man bereits im Sterben liegt, wollen sie noch den Grund für die Reise wissen). Dann muss man für die 15-Tage-Wartezeit, die die Antragsbearbeitung dauert, 600 Euro zahlen. Neunzig Prozent der Anträge werden abgewiesen, vor allem dann, wenn man keinen Wohnsitz in Europa hat.

Ich ließ alle meine Verbindungen spielen, die ich in Europa hatte, um seine Mutter holen zu können. Aber dank F.U.K.US [Frankreich, United Kingdom, USA] ist es Libyern, die nicht der Moslembruderschaft oder der UN-gestützten Regierung angehören oder aus Misrata sind, unmöglich ins Ausland zu reisen, außer man hat einen Wohnsitz in Europa. Ich war so wütend, dass ich nichts für seine Mutter, die einen Schlaganfall erlitten hatte, tun konnte. Ihr Ehemann und andere Freunde versuchten zusammen mit mir, alles in ihrer Macht stehende für sie zu tun. Aber für einen Libyer ist es nicht einmal aus gesundheitlichen Gründen möglich, eine Reise zu unternehmen. Dafür hat die NATO gesorgt. Sie hat die meisten unserer Krankenhäuser zerstört, ebenso wie neunzig Prozent der Infrastruktur. Aber am schlimmsten ist, dass sie sich mit al-Kaida, dem IS und anderen Fanatikern verbündet hat, die jetzt unser Land regieren, und die uns des Respekts, unserer Würde und unserer Freiheit beraubt haben.

Im November 2016 rief mich Muataz an, um mir zum Geburtstag zu gratulieren und mich daran zu erinnern, dass es Zeit sei, nach Hause – nach Libyen – zu kommen, wo ich schon so lange nicht mehr gewesen war. Ich versprach ihm, dass ich meinen Vater, der eine schwere Operation hinter sich hatte, sobald er wieder reisefähig sei, nach Tripolis begleiten werde. Ich würde mich dann mit ihm und seinen Schwestern verabreden. Der 5. Dezember sollte das Datum unserer Rückreise sein und ich wollte die Geschwister am nächsten Tag treffen. Zum letzten Mal telefonierten wir am 13. November 2016 miteinander. Da ich wusste, dass Muataz an der Universität viel zu tun hatte, achtete ich nicht besonders darauf, dass ich eine ganze Woche nichts von ihm hörte. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich auch sehr mit meinem Vater beschäftigt war, dem es nicht gut ging, und ich deshalb nicht so viel Zeit zuhause und im Internet verbrachte.
Um den 1. Dezember rief ich Muataz Vater an. Ich wollte wissen, ob mit der Familie alles in Ordnung sei. Ja, alles sei in Ordnung, nur Muataz habe seit einigen Tagen schreckliche Kopfschmerzen. Ich fragte, ob sie schon beim Arzt gewesen sind und der Vater meinte, sie würden in den nächsten Tagen gehen. Auch das nahm ich nicht sehr ernst, ich dachte, dass Muataz‘ Kopfschmerzen vom stressigen Leben in Tripolis herrührten. Tripolis ist keine leichte Stadt zum Leben, besonders wenn es unter der Herrschaft der Moslembruderschaft, der UN-gestützten Regierung und Misrata-Milizen steht. Jeder muss vorsichtig sein, egal, ob er Pro-Gaddafi ist oder nicht.

Am 15. Dezember rief mich Muataz‘ Vater an und sagte mir, mit seinem Sohn gebe es ein Problem. In seinem Gehirn seien Aneurysmen[1] gefunden worden. Es war für mich ein Schock, der mich sprachlos machte. Ich fand keine Worte, um seinem Vater und der ganzen Familie mein Mitgefühl auszudrücken. Doch bat ich seinen Vater, der sich zu dieser Zeit nicht in Tripolis aufhielt, mir Muataz‘ gesamte Krankenunterlagen aus der Klinik in Tripolis zuzusenden. Ich wollte einen Gehirnchirurgen ausfindig machen, der nach Tripolis reisen sollte, um Muataz dort zu operieren. Sein Vater erklärte mir, in Tripolis würde niemand Muataz operieren, bevor nicht die Gehirnschwellung zurückgegangen sei. Wir müssten warten, bis die Schwellung abgeklungen ist. Gab es keine Möglichkeit, ihn mit dem Flugzeug zu mir nach Europa zu bringen? Sein Vater sagte, keine Botschaft würde ihm ein Schengen-Visum ausstellen, aus Angst, er könnte in Europa um Asyl bitten... Ich sagte, ich werde die Botschaft anrufen.

Mit Sicherheit möchtest du nicht wirklich wissen, wie das Gespräch mit der Botschaft verlief. Was ich aus dem Gespräch heraushörte war, dass unsere neuen Kolonialmächte tatsächlich eine entsprechende Anweisung erlassen haben. Ich gab nicht auf. Ich sprach mit dem Gehirnchirurgen. Ich fragte ihn, ob er dem Arzt in Tripolis über Skype bei der Operation helfen würde. Der Arzt zögerte. Er kannte mich aber bereits von der Behandlung meines Vaters und wusste, dass ich ein Nein nicht akzeptieren würde und stimmte unter der Bedingung zu, dass ich rechtzeitig nach Tripolis und zu Muataz fahren würde. Ich konnte ihm versichern, dass alles bereits vorbereitet sei und ich und meine Familie am 21. Dezember 2016 fliegen werden.
Bei dem Gespräch, das ich vor der Abreise mit Muataz‘ Vater führte, sagte er mir, Muataz sei in ein künstliches Koma versetzt worden. Als ich ihn fragte, wo er, der Vater, sei, sagte er, er werde nicht in die Klinik kommen können, um seinen Sohn zu sehen. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er zu mir, „die ganze Familie wartet morgen auf dich, auch der Arzt ist da. Er wird dir die Situation erklären.“
Am nächsten Tag flogen wir nach Tripolis. Wir mussten über Istanbul fliegen, das ist die einzige Möglichkeit, mit dem Flugzeug nach Tripolis zu kommen. Gegen 19 Uhr landeten wir. Noch während wir auf das Gepäck warteten, rief ich Muataz‘ Vater an, um zu erfahren, in welche Klinik sein Sohn ist.
„Es tut mir so leid dir sagen zu müssen, dass mein Sohn Muataz wenige Stunden vor deiner Landung in Tripolis gestorben ist.“

Wie angewurzelt blieb ich stehen. „Was? Du sagtest doch, es geht ihm gut. Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht. Du musst meine Tochter anrufen. Sie wird dir alles erzählen. Sie haben auf dich gewartet. Aber jetzt sind sie nach Hause gegangen.“
Alles, was ich dem Vater, der nicht an der Seite seines geliebten, im Sterben liegenden Sohnes sein durfte, sagen konnte, war, wie leid es mir tut. Dann hängte ich ein.
Das alles wäre nie passiert, wenn nicht Obama, Hillary, Cameron, Sarkozy, Erdogan, Katar und alle anderen arabischen Staaten, in einem illegalen Krieg ein souveränes Land angegriffen hätten. Muatez wäre immer noch am Leben.

Hätten diese Ungeheuer Libyen nicht in die Steinzeit zurückgebombt, würden wir noch immer Krankenhäuser haben und nicht in Straßenbaracken jede Art von Operation durchführen müssen.
Ich weiß, was du sagen willst. Es ist nicht nur Libyen zerstört worden, sondern auch Syrien und der Jemen. Erst heute meldete man, dass im Jemen über eine Million Menschen an Cholera erkrankt sind. Es stimmt, auf der ganzen Welt und besonders im Nahen Osten werden Länder verwüstet. Aber zumindest können andere Araber noch reisen. Es gibt in den Ländern noch Botschaften. Und es existieren keine Anweisungen, die allen Arabern das Reisen verbieten. Libyen ist weltweit das einzige Land, in dessen Hauptstadt Tripolis es keine Botschaften und in Bengasi kein Konsulat mehr gibt. Nur Libyen leidet unter dieser Art von Restriktionen.
Nun grüße ich meinen lieben Freund Muataz. Möge er in Frieden ruhen.



https://libyaagainstsuperpowermedia.org/2017/12/21/in-remembrance-of-mouataz-21-12-2016-another-heinous-crime-from-nato-and-f-u-k-us/

 Übersetzung: A. Gutsche


[1] krankhafte Erweiterungen von Arterien

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