EIN TEUFELSKREIS
Libyen. Muaad el-Sharif
in Tripolis – Blog Nr. 4
Kopf hoch: Dieser Beitrag dient nur meiner Entlastung, er
bietet keine Lösungen oder auch nur Lösungsansätze, und ja: Er ist verdammt
deprimierend.
Ich lebe immer noch in Libyen – ich gebrauche den Begriff "leben" wie gewöhnlich ganz locker – und es scheint, dass alle meine Versuche, hier rauszukommen, kläglich gescheitert sind. Also wie es aussieht, bleibe ich noch eine Weile hier.
Ich lebe immer noch in Libyen – ich gebrauche den Begriff "leben" wie gewöhnlich ganz locker – und es scheint, dass alle meine Versuche, hier rauszukommen, kläglich gescheitert sind. Also wie es aussieht, bleibe ich noch eine Weile hier.
Alltagsleben
Es erstaunt mich immer wieder, wie die Leute in diesem Dreck
überleben können. Egal, wie lange ich darüber nachdenke, es will nicht in
meinen Kopf. Wer immer auch regiert, er scheint die Grenzen dafür auszuloten,
wie lange man ohne Sicherheit, Wasser, Strom, Geld und Infrastruktur überleben
kann. Doch irgendwie überlebt man. Es fühlt sich so an, als sei man ein wenig wie
ein lebender Toter, Walking Dead, falls du diesen Film kennst.
Irgendwo geraten welche aneinander. An Tankstellen bilden
sich riesige Schlangen. Dann endet diese Krise und schon bald beginnt eine
neue, diesmal geht es um Gas zum Kochen.
Eine Verknappung nach der anderen, eine Krise nach der
anderen. Krieg bricht in diesem Höllenloch ohne Vorwarnung aus. Ohne jeden Sinn
und Zweck. Doch das ist die Art, wie dieses System – und auch hier benutze ich
den Begriff „locker“ – funktioniert.
Wenn es ganz normal regnet, sind die Straßen überschwemmt
und die Mobilität ist stark eingeschränkt. Das ist – in Verbindung mit lang
anhaltenden Stromausfällen – normal.
Der Versuch, diesen Menschen mit Logik beizukommen, gleicht
einer Sünde. Das Leben wird zu einem Paradoxon, das sich unter einer Camouflage
versteckt.
Die Wirtschaft
Die Wirtschaft
Egal, wie hart es sie trifft, sie reagieren nicht. Egal, wie
hoch die Preise steigen oder wie lange man sich anstellen muss, um an die wichtigsten
Dinge des täglichen Lebens zu kommen: Sie stellen sich einfach brav in Reih und
Glied auf, um was auch immer zu bekommen.
Es wird kälter, es gibt tagelang keinen Strom, es wird
heißer, und es gibt auch tagelang keinen Strom.
Für eine Wirtschaft mit so hoher Inflation überrascht es
mich, dass es in den Banken an Bargeld mangelt!
Und was machen sie? Meistens fallen sie sich gegenseitig in
den Rücken und versuchen, für sich das Beste aus der schlechten Situation herauszuholen:
Sie erhöhen die Preise von Waren und Dienstleistungen, um aus den Menschen möglichst
jeden Penny zu pressen.
Es gibt welche, die nicht
so hart wie die große Mehrheit getroffen werden
Während die meisten Libyer kämpfen, um über die Runden zu
kommen, leben einige wenige ein Leben, das sie online (Facebook sei Dank) mittels
Fotos von schicken Häusern, Autos und verschwenderischen Hochzeiten zur Schau
stellen, um mit ihrem Reichtum und sozialem Status zu protzen. Alles ist wie
mit Nutella überzogen (aus irgendeinem Grund ist das hier eine große Sache!).
Libyer haben immer gerne mit Hochzeiten geprahlt und
gezeigt, dass sie so viel Geld haben wie ihr Nachbar, auch wenn sie sich das
Geld leihen mussten, um so zu tun als ob. Aber Geld auf diese Art auszugeben
ist neu. Handelt es sich hier um einen Fall von „Lippenstift-Effekt“?[1]
Die politische Szene
in Libyen
In Libyen, das ein Land ist, in dem es alles doppelt gibt (Regierungen,
Parlamente, Zentralbanken), wird alles weniger (bei der Annahme, dass je mehr
desto besser ist):
-
Die Korruption frisst auf, was vom Reichtum
Libyens noch übrig ist
-
Keine Sicherheit
-
Die Landeswährung existiert praktisch nicht, und
obwohl sie so selten ist, ist sie praktisch wertlos
-
Die Regierungsorgane funktionieren nicht
-
Elektrizität und Treibstoff für den täglichen
Bedarf fehlen
Regierungen wechseln sich ab, ohne dass ihnen Rechenschaft
abverlangt wird. Tatsächlich genießen die meisten der bisherigen Minister und
Premierminister im Ausland einen friedlichen Ruhestand, und niemand überprüft,
ob sie Geld veruntreuten, bevor sie ihr Amt aufgegeben haben. Als ob sich
jemand um so etwas scheren würde!
Gesetze werden erlassen, ohne dass es jemanden kümmert. Die
einzige Regel ist, dass es keine Regeln gibt.
Wie soll eine Regierung richtig arbeiten, wenn sie nicht vom
Parlament kontrolliert wird?
Wie soll ein Parlament etwas ablehnen, wenn sich ihre
Mitglieder nicht regelmäßig treffen?
Der Teufelskreis
Der Teufelskreis
Leider gibt es die meisten Probleme, die heute passieren,
schon lange. Einige gibt es schon seit Jahren wie das Liquidationsproblem und
die hohen Schwarzmarktpreise für US-Dollar. Andere Probleme gibt es jedes Jahr
aufs Neue, wie die Überschwemmungen nach starken Regenfällen. Da diese Probleme
periodisch auftreten und somit vorhersehbar sind, könnten sie leicht gelöst
werden – falls es eine richtige Regierung gäbe – aber nein! Diese Probleme entstehen
immer wieder. Denn so funktioniert Libyen nun mal.
Und zum Schluss
Wird es irgendwann besser werden? Hat jemand einen Zauberstab, um alles zu richten? Die Dinge werden nicht von selbst besser. Aber wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt und die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, könnten sich die Dinge verbessern.
Als ein junger Mann, der in Libyen aufgewachsen ist und sein ganzes Leben hier verbracht hat, glaube ich nicht, dass sich während meines Lebens noch etwas ändern wird. Und ich bin nicht sehr begeistert, dass ich unter diesen Bedingungen eine Familie gründen werde und nur darauf hoffen kann, dass es meinen Kindern einmal besser geht.
Ich hoffe wirklich, dass die Menschen dieses Landes aufwachen und erkennen, dass sie mit dem, was sie tun, uns alle ertränken. Denn wir sitzen gemeinsam im selben Boot.
[1] ‚Lippenstift-Effekt‘:
Eine Theorie, die besagt, dass Konsumenten in einer Wirtschaftskrise eher
weniger teure Luxusgüter kaufen, z.B. statt eines teuren Pelzmantels einen
teuren Lippenstift.
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Dankeschön
Herr Walter