Dienstag, 10. Mai 2016



Libyen verstehen – ein Interview mit Alexandra Valiente

von Hugo Turner[1]

Teil I, April 2016
2011 wurde Libyen, die erfolgreichste Demokratie Afrikas, zerstört. Terroristische Todesbrigaden wurden auf die libysche Nation losgelassen. NATO-Bomben zerstörten das Land und stürzten es ins Chaos. Obwohl es den todbringenden NATO-Truppen gelang, die Kontrolle über die meisten der ölreichen Gebiete zu erlangen, leistet das libysche Volk bis heute Widerstand.
Da seit dem NATO-Angriff 2011 Informationen über die tatsächlichen Vorgänge im Land äußerst rar sind, wandte ich mich an Alexandra Valiente. Sie ist eine der wenigen westlichen Berichterstatterinnen, die die Vorgänge kontinuierlich verfolgt und gute Kontakte nach Libyen hat. Alexandra Valiente ist die Herausgeberin von „Jamahiriya News Agency“ und von den „Viva-Libya“-Netzseiten, auf denen über die Ereignisse in Libyen berichtet wird. Sie gibt ebenfalls „Libya 360“ heraus, das sich mit Nachrichten und Widerstandsbewegungen in Afrika und Lateinamerika befasst, sowie „Syria 360“ und die „Revolutionary Strategic Studies“. Man kann ihr auf Twitter (@libya360) und (@jamahiriyanews) folgen.
Alexandra Valiente erklärte sich freundlicherweise mit einem Interview einverstanden. Hier nun der erste Teil unseres Gesprächs über die gegenwärtige Situation in Libyen.

HT: Die Libyer verweigern sich weiterhin den neuen Vorgaben. Was verbirgt sich hinter dem „Grünen Widerstand“? Können Sie uns darüber berichten, in welcher Form der Grüne Widerstand seit 2011 aktiv ist?

AV: Die tapfere libysche Bevölkerung konnte während des NATO-Kriegs der barbarischen und kriminellen „Operation Unified Protector“ fast neun Monate lang widerstehen. Die heldenhaften Männer, Frauen und Jugendlichen, die ihre Nation verteidigten, das war der Grüne Widerstand.
Ab 2011 hat sich der Grüne Widerstand zunächst organisiert, dann aufgelöst und sich wiederum neu gebildet, um gemeinsam mit verbündeten Organisationen zu einem machtvollen Block zu werden, der sowohl eine  Basis in Libyen hat, als auch in jenen Ländern, in die sich Libyer ins Asyl flüchteten.
Auch wenn es unterschiedliche Meinungen über den richtigen Weg zur Überwindung der gegenwärtigen Krise gibt, so sind sich doch alle in dem Ziel einig, das Land von fremden Besatzern und vom Terrorismus zu befreien und mittels Volksarmee, Volkspolizei und einer nicht korrupten Justiz wieder für Recht und Ordnung zu sorgen.
Vorrangig sind die Wiederherstellung der nationalen Souveränität, der Wiederaufbau der nationalen Infrastruktur, die Lebensgrundlagen wie Wohnen, Erziehung, medizinische Versorgung, ausreichende Ernährung, sauberes Trinkwasser und den Wohlstand für alle zu sichern. Besonders wichtig ist auch, den Reichtum des Landes wieder der Bevölkerung zugutekommen zu lassen.
Die Kosten für den Wiederaufbau des durch die NATO zerstörten Landes werden auf über 500 Milliarden US-$ geschätzt.
Und nicht zuletzt müssen die Wunden geheilt werden, die der Krieg geschlagen hat. Um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden braucht es Lösungen, die allen Seiten gerecht werden und aus denen alle Parteien Nutzen ziehen können.
Das Land darf nicht geteilt werden – seine Integrität muss erhalten bleiben.
Der Grüne Widerstand
-         genießt breite Unterstützung innerhalb und außerhalb Libyens
-         ist repräsentativ für alle Teile der libyschen Zivilgesellschaft, ebenso für das Militär und den Geheimdienst, für Anwälte und Justizbeamte, Akademiker und Studenten und für die Stammesführer – als Experten für alle Arten von Bemühungen und Strapazen
-         erhält breite Unterstützung von anderen revolutionären Organisationen und Nationen
Wie die Organisationsstruktur der Libyan Popular National Movement[2] (LPNM) zeigt, sind die Rahmenbedingungen für eine Regierung bereits erstellt.
Es sind die gleichen Strukturen wie die der Libyan National Assembly (LNA / Libysche Nationalversammlung).
In allen Organisationen der Grünen Widerstandsbewegung herrscht das Prinzip der Selbstbestimmung (self-governing). Dessen Grundlage bildet die Ideologie der Großen Sozialistischen Dschamahirija des libysch-arabischen Volkes, die aus der Al-Fatah-Revolution hervorging, und deren historische Wurzeln auf alte Stammestraditionen zurückgehen (von geschätzt 140 libysche Stämmen).
Der Grüne Widerstand ist eine Macht, die nicht ignoriert werden kann. Auch wenn die Vereinten Nationen und die Medien versuchten, seine Bedeutung herunterzuspielen und ihn als „eine schlecht organisierte Gruppe von Gaddafi Getreuen“ darzustellen, entspricht dieses Bild nicht der Realität.
Ohne die direkte Beteiligung der Stämme und des Widerstands kann in Libyen nichts verändert oder angeschoben werden, kann es keinen Fortschritt und keine Aussöhnung geben. Da jeder Libyer Angehöriger eines Stammes ist, kann der Widerstand nicht als etwas von den Stämmen Getrenntes gesehen werden.
Heute (22. April 2016) hat die Libya Popular National Movement ein Statement[3] veröffentlicht. Darin verweist sie noch einmal ausdrücklich auf ihren Standpunkt, der jegliche ausländische Einmischung ablehnt. Die LPNM hat immer den Dialog mit UN-SMIL verweigert. Wichtig ist, dass sie in der heutigen Stellungnahme auch einen innerlibyschen Dialog ablehnt, wenn diesem nicht die Freilassung aller politischen Gefangenen vorausgeht.
Ohne das Inkrafttreten des Amnestiegesetzes fehlt jede Grundlage, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und den Wiederaufbau der Nation zu beginnen.
HT: Der Tod Gaddafis versetzte dem Widerstand einen beträchtlichen psychologischen Schlag.

AV: Sein Tod rüttelte den Widerstand auf, befeuerte den Kampfeinsatz.

HAT: Trotz der großen Gefahren hatten die Libyer Menschenrechtsgruppen gebildet, die forderten, die Herrschaft der Todesbrigaden zu beenden. Was können Sie uns dazu sagen?

AV: Menschenrechtsorganisationen haben in Libyen schon immer existiert. Ab 2011 waren sie dazu gezwungen, ihren Hauptsitz in benachbarte Länder zu verlegen und von dort aus zu arbeiten. Alle, die versuchten, in Libyen zu arbeiten, wurden entführt, gefangengenommen und misshandelt, viele wurden ermordet. Ihre Rolle bei der Offenlegung von Menschenrechtsverletzungen, die im ganzen Land begangen wurden, ist von unschätzbarem Wert.
Die NCHRL[4] (National Commission for Human Rights in Libya) veröffentlichte täglich Berichte über das Vorgehen der Milizen und des IS, über die anhaltende Verfolgung von afrikanischen Flüchtlingen und dunkelhäutiger Libyer, über Kollektivbestrafungen von Zivilisten unter Milizenherrschaft und über den Status der politischen Gefangenen. Sie schlug auch Alarm bei humanitären Notfällen.
Als während der Abfassung des Skhirat-Abkommens klar wurde, dass eine Einheitsregierung den Menschenrechtsverstößen kein Ende setzen, sondern statt dessen den Gewalttätern volle Immunität zusichern würde, kritisierte die NCHRL auch offen die UN-Bemühungen zur Bildung einer Einheitsregierung. [5]
Seit Dezember 2015 sind die bestätigten Nachrichten von Entführungen und Verhaftungen von NCHRL-Mitgliedern in Tripolis durch Milizen zurückgegangen. Über das Schicksal der Mitglieder der Organisation wissen wir nichts. Nichts mehr von ihnen zu hören, bedeutet einen schrecklichen Verlust.

HT: Wie würden Sie die beiden Regierungen beschreiben?

AV: Die Situation hat sich mit der vor kurzem erfolgten Ankunft der von der UN-ernannten Einheitsregierung in Tripolis rapide verändert. Deshalb lässt sich diese Frage am besten mit einer einfachen Darstellung der Ereignisse beantworten.
Zunächst muss man sich klar machen, dass seit den Wahlen im Jahr 2014 weder der GNC (General National Congress / Tripolis) noch die HoR (House of Representatives / Tobruk) einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes oder zur Versorgung des libyschen Volkes geleistet haben. Beide haben sich davor gedrückt, Verantwortung für Terrorismus, Menschenrechtsverletzungen, Missachtung der Gesetze und Wegfall der Strafverfolgung sowie für das gewalttätige Vorgehen der Milizen zu übernehmen. Beide „Regierungen“ haben Menschenrechtsverletzungen, Folter, Scheinprozesse und Exekutionen, die aus politischer Rache durchgeführt wurden, gebilligt. Daneben gab es keinerlei Fortschritte bei der Ausarbeitung einer Verfassung. Beide haben ausschließlich westlichen Interessen gedient.[6]
Der GNC, eine islamistische Gruppierung, kam 2012 an die Macht. Er ersetzte den NTC. Die Hauptaufgabe des GNC bestand in der Ausarbeitung einer Verfassung – womit er erwiesenermaßen katastrophal gescheitert ist. Von Anfang an gespalten und konfliktbeladen war der GNC gezwungen, am 25. Juni 2014 Wahlen durchzuführen. Tatsächlich beteiligten sich weniger als 14 Prozent der Libyer im Land und nur ein Prozent der Libyer, die im Ausland leben, an der Wahl.
Es war vorgesehen, dass das HoR (House of Representatives) am 4. August 2014 den GNC ersetzen und weiter an der Ausarbeitung einer Verfassung arbeiten sollte. Doch nun riss der GNC, gestützt durch islamistische Milizen, die Macht an sich. Seinen Sitz errichtete er in Tripolis.
Das HoR wurde gewaltsam (Überfälle, Entführungen, Morde) zur Flucht aus Tripolis gedrängt und wählte Tobruk zum neuen Regierungssitz.
Weder der GNC noch das HoR erkannten sich gegenseitig an. Aber die „internationale Gemeinschaft“, dominiert von NATO-Mitgliedern und den Vereinten Nationen, erklärten das HoR zur einzig legitimen Regierung.
Das HoR behielt seinen Status als Libyens „international anerkannte“ Regierung solange, bis Ende März 2016 die von der UN geschaffene und unterstützte Einheitsregierung (mit Hilfe der italienischen Marine) in Tripolis eintraf. Weder vom GNC noch vom HoR anerkannt, nahm die Einheitsregierung ihre Arbeit von einem gesicherten und isoliert bei Tripolis gelegenen Marinestützpunkt aus auf.[7]
Martin Kobler ließ bei einem Treffen mit Abdelhakim Belhadsch und anderen islamistischen Milizenführern in Istanbul verlauten, dass der GNC seine Macht abgeben und die Einheitsregierung billigen würde.
Am 19. April fand ein Geheimtreffen zwischen Kobler und Mitgliedern des HoR (Tobruk) statt. Am nächsten Tag gaben sie ihrer Zuversicht bezüglich einer Zustimmung zur Einheitsregierung Ausdruck.
Kobler hatte behauptet, dass die Zustimmung des HoR (Tobruk) die entscheidende Voraussetzung für die vollständige Einsetzung der Einheitsregierung (GoA – Government of Accord) sei. Wie das libysche Volk auf diesen neuerlichen Schachzug antwortet, wird von entscheidender Bedeutung sein.
Kobler gab am 12. April zu, dass die Einheitsregierung nur auf dem Papier existiert. Da dies immer noch so ist und auch keine Wahlen stattfanden, ist dieses Papier wertlos. Die Vereinten Nationen können keine Regierung erschaffen, einsetzen und anschließend anerkennen. Dazu haben sie keine Berechtigung. Einzig das libysche Volk kann durch faire und freie Wahlen entscheiden, wer regiert. Wahlen, an denen jeder Bürger teilnehmen und bei der sich jede Person ohne Ansehen von Stamm oder politischer Mitgliedschaft um ein Amt bewerben kann.

HT: Wieder einmal installieren ausländische Mächte eine handverlesene Regierung. Denken Sie, dass die Libyer deren Legitimität anerkennen?

AV: Nein. Sie sehen in ihr das, was sie ist: Ein ausländisches Gremium, eingesetzt zur Rekolonialisierung des Landes, zur Zerstörung der libyschen Souveränität und zur Errichtung einer Operationsbasis der Moslembruderschaft.

Fortsetzung folgt.

(Aus dem Englischen: Angelika Gutsche)





[1] https://vivalibya.wordpress.com/2016/04/22/understanding-libya/
[2] https://jamahiriyanewsagency.wordpress.com/2016/01/27/the-libyan-peoples-national-movement-introductory-leaflet/
[3] https://jamahiriyanewsagency.wordpress.com/2016/04/22/lpnm-rejects-foreign-interference-and-national-dialog-that-does-not-include-the-release-of-all-political-prisoners/
[4] https://vivalibya.wordpress.com/category/international-law/human-rights/nchrl/
[5] https://vivalibya.wordpress.com/2016/04/07/militias-find-immunity-for-war-crimes-crimes-against-humanity-under-uns-government-of-accord/
[6] https://jamahiriyanewsagency.wordpress.com/2015/08/17/behind-daesh-in-libya-is-the-hypocrisy-of-rival-governments-that-bow-to-the-west/
[7] https://href.li/?https://jamahiriyanewsagency.wordpress.com/2016/03/31/un-brokered-unity-government-works-from-secured-tripoli-naval-base/

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