Die Rolle der Türkei im Libyen-Konflikt
Libyen. Warum die Türkei, die eine lange, gemeinsame Geschichte mit Libyen verbindet, nach wie vor Moslembrüder mit Waffen und al-Kaida nahen Kämpfern unterstützt.
Mehrere Zwischenfälle der letzten Jahre zeigten, dass die
Türkei Waffen an Dschihadisten in Libyen liefert und damit gegen das
Waffenembargo der Vereinten Nationen verstößt. Schon im Dezember 2018 gab sich die
libysche Armee (LNA) tief besorgt über die in Libyen sichergestellte Lieferung
von Gewehren und Munition. Das libysche Militärkommando im Osten forderte den UN-Sicherheitsrat,
die Vereinten Nationen und die UN-Mission für Libyen dazu auf, eine sofortige
Untersuchung einzuleiten und die Türkei zu verurteilen. „Die Munition besteht
aus 4,2 Millionen Geschossen. Dies reicht aus, um fast 80 Prozent des libyschen
Volkes zu töten, sowie Pistolen und Gewehre plus Zubehör, einschließlich
Schalldämpfer zur Ausübung von Attentaten.“
Im Januar 2018 war von Griechenland ein mit Sprengstoff
beladenes Schiff aufgebracht worden, das auf den Weg von der Türkei nach Libyen
war. Das Parlament (Tobruk) beschuldigte im Januar die Türkei, Attentäter, die
mit einer Bombe 40 Menschen nahe einer Moschee in Bengasi töteten, unterstützt
zu haben. Und in einer israelischen Studie hieß es, dass eine in Libyen
entdeckte Lieferung von 3.000 türkischen Handfeuerwaffen nicht für eine Armee
bestimmt sein konnte, sondern der Bewaffnung terroristischer Gruppierungen diente,
die der Muslimbruderschaft nahestehen.
Auch Mustafa Gurbuz vom Arab Center in Washington ist der
Meinung, dass die Türkei in Libyen der Muslimbruderschaft nahestehende Parteien
und Milizen, die sich in Feindschaft zu Feldmarschall Hafter sehen,
unterstützt. Dazu Nicholas Heras vom Center for a New American Security: „Die
Türkei unterstützt in Libyen seit langem islamistische Organisationen,
insbesondere jene der Muslimbruderschaft. Zwischen der Türkei und Katar besteht
dabei eine Partnerschaft.“ Die islamistischen Gruppierungen in Libyen, also die
Feinde der libyschen Armee (LNA) und von Hafter, erhalten beträchtliche, auch
finanzielle Unterstützung.
Die Türkei hat wirtschaftliche Interessen in Libyen und
hofft, dort neue Märkte zu erschließen. Die Auftragsvergabe erfolgte bisher
über die sogenannte ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis. Einer der letzten
erteilten Aufträge war die Sanierung der Küstenstraße in Tripolis, die jedoch
nicht mehr zur Ausführung kam. Als sich im November 2018 in Palermo Hafter
gegen die Anwesenheit der Türkei und Katars bei den Gesprächen zwischen ihm und
Sarradsch von der ‚Einheitsregierung‘ aussprach, reisten die türkischen
Delegierten ab.
Die Türkei hat sich jedoch den Ast, auf dem sie in Libyen
saß, selbst abgesägt. In der Ära Gaddafi erfreute sich die Türkei lukrativer
Aufträge im Bausektor. Doch 2011 unterstützte es die ‚Aufständischen‘,
insbesondere die Stadt Misrata im Westen Libyens, gegen die damalige libysche
Armee und Oberst Gaddafi.
In Misrata leben noch heute viele türkische Nachkommen aus
Zeiten des Osmanischen Reiches. Ab 1517 war die Kyrenaika unter die Herrschaft
der Türken gefallen, im Jahr 1551 folgte Tripolitanien und nach langer
Belagerung wurde auch Tripolis eingenommen. Lange Jahre blieb Libyen, mit
wechselvollen Machtverhältnissen, ein Teil des Osmanischen Reiches, bis das bisher
noch zum Osmanischen Reich gehörige Tripolitanien 1878 beim Berliner Kongress Italien
zugesprochen wurde.
Für die libyschen Stämme war das Osmanische Reich eine
fremde Besatzungsmacht, während die Türken um ihr verlorenes Osmanisches Reich trauerten.
Als 2011 der ‚arabische Frühling‘ ausbrach, sah sich die Türkei unter Erdogan in
der Vorreiterrolle des politischen Islams und hoffte, mit Hilfe der
Moslembrüder eine Vormachtstellung in der Region zu erringen. Die politische
Lage entwickelte sich für die Türkei zunächst positiv, denn im Zuge des
‚arabischen Frühlings‘ kamen sowohl in Tunesien als auch in Ägypten
Moslembrüder an die Macht. Nur dank des Sturzes von säkularen Regierungen in
diesen beiden Ländern und der Wahl islamistischer Regierungen, die sich auch
bei den Wahlkämpfen der finanziellen Unterstützung Katars, aber auch der USA
und anderer Länder, erfreuten, war es möglich, gegen Libyen Krieg zu führen.
Waffen und Kämpfer, darunter al-Kaida-Gruppen, konnten über die libysche Grenze
– im Westen aus Tunesien, im Osten aus Ägypten – ins Land geschleust werden. Und
die Hafenstadt Misrata beteiligte sich an vorderster Front am Sturz Gaddafis.
Es waren auch Kämpfer aus Misrata, die für seine brutale Ermordung und
Zurschaustellung seines Leichnams verantwortlich waren.
Die Türkei und Katar dankten es Misrata fürstlich. Während
der ganzen Chaoszeiten wurde die Stadt über Wasser und per Luftweg bestens
versorgt. Es kamen aber nicht nur Güter des täglichen Bedarfs in die Stadt,
sondern weiterhin auch Kämpfer und Waffen, insbesondere ab 2014, als
Feldmarschall Hafter seinen Kampf gegen die Moslembrüder und andere
dschihadistische Gruppierungen begann, die sich unter dem Namen LIFG Libyan Islamic Fighting Group
zusammengeschlossen hatten. Über den Wasserweg von Misrata nach Bengasi und
Derna wurden Dschihadisten in Ostlibyen, die al-Kaida nahestanden und gegen die
libysche Nationalarmee kämpften, versorgt.
Doch zwischenzeitlich hatten sich in vor allem in Ägypten
die politischen Verhältnisse wieder gedreht. Besonders unbeliebt hatten sich
die Muslimbrüder gemacht, als sie die wichtige Einnahmequelle und den Stolz des
Landes, den Suez-Kanal, an Katar verkaufen wollten. Das sollte Murzis Dank an
den Emir für die Unterstützung beim Sturz Mubaraks sein. Als sich dazu die
wirtschaftlichen Probleme in Ägypten weiter verschärften, ging das Militär massiv
und brutal gegen die Muslimbrüder vor und al-Sisi übernahm die Macht.
In Libyens konnte die libysche Nationalarmee unter
Feldmarschall Hafter die Dschihadisten mit Unterstützung Ägyptens aus immer
mehr Gebieten verdrängen und so den Osten befrieden. Mit der jetzigen Kontrolle
von fast neunzig Prozent des libyschen Territoriums und dem Marsch der libysche
Armee auf Tripolis sehen die Türken ihre Felle davonschwimmen. Von einem neuen
Großosmanischen Reich unter seiner Vorherrschaft dürfte sich Erdogan schon
lange verabschiedet haben. Doch nun geht es um mehr.
Aus vier Gründen ist es Erdogan nicht möglich, sich einfach
aus Libyen zurückzuziehen. In Libyen hat vor allem Katar, das in Konkurrenz zu
Saudi Arabien und den VAE steht, viel investiert. Und die Türkei befindet sich
in einer großen, vor allem finanziellen Abhängigkeit von Katar. Katar wird es
also nicht zulassen, das sich die Türkei einfach verabschiedet, selbst wenn sie
das möchte. Zum zweiten hat die Türkei vielen Islamisten aus Libyen, aber auch
aus Syrien, Zuflucht gewährt. Erwähnt sei hier nur der ehemalige
al-Kaida-Kämpfer Abdelhakim Belhadsch, Anführer der Libyen Islamic Fighting Group, der für kriminelle Anschläge gegen Personen
und öffentliche Versorgungseinrichtungen verantwortlich zeichnet. Würde die
Türkei nun die Hilfe und Zusammenarbeit mit den Moslembrüdern und ähnlichen
Gruppierungen stoppen, wären terroristische Anschläge im eigenen Land zu
befürchten. Erdogan würde den Dschihad in die Türkei holen. Dies kann sich die
Türkei, wirtschaftlich angeschlagen und stark abhängig von der
Tourismusbranche, nicht leisten. Und ebenso wenig kann es sich drittens leisten,
in Libyen von Aufträgen für den Wiederaufbau des Landes abgehängt zu werden. Und
nicht zuletzt darf der vierte Grund unterschätzt werden: die ideologische Nähe zu
den Moslembrüdern.
Die Türkei hält also weiterhin an der Unterstützung der
‚Einheitsregierung‘, der Tripolis- und Misrata-Milizen und der Muslimbruderschaft
fest. Sie schickt nach wie vor Kämpfer der al-Nusra-Front von der Türkei nach
Libyen, damit sie die Tripolis-Milizen unterstützen. Wie heute berichtet wurde,
sagte die italienische Journalistin Vanessa Tomassini in einem Interview mit Channel 218 News, dass bei den Kämpfen
um den internationalen Flughafens auf Seiten der Tripolis-Miliz (Tripoli Protection Force TPF) auch gefährliche
Terroristen von Ansar al-Sharia, ebenfalls ein Ableger von al-Kaida, kämpfen. Die
Journalistin beugte sich nicht dem starken Druck, diese Aussage zurückzunehmen.
Inzwischen fühlt sich auch der IS dazu aufgerufen, die ‚Einheitsregierung‘ in
Tripolis mit Attentaten und Angriffen, vor allem in Südlibyen, bei ihrem Kampf
gegen die libysche Armee und Hafter zu unterstützen.
Und warum unterstützt die ‚internationale Gemeinschaft‘ und
die EU diese Einheitsregierung mit ihren dschihadistischen Kampfgruppen,
berüchtigt für auch in Europa ausgeführte Attentate? Zum einen verschafft ihr
die ‚Einheitsregierung‘ unter Sarradsch immer noch Einfluss in Libyen, vor
allem was den Abschluss internationaler Verträge mit internationalen
Firmenkonsortien angeht und sichert somit den Zugriff auf die Rohstoffe des
Landes, zum anderen halten diese kriminellen und terroristischen Milizen Europa
die afrikanischen Flüchtlinge vom Hals, indem sie sie an der Überfahrt nach
Italien hindern. Und dann kann es sich Europa vor den EU-Wahlen auch nicht
leisten, Erdogan zu vergrätzen: Er könnte ja sonst wieder die Grenzen für
Syrien-Flüchtlinge in Richtung Griechenland öffnen.
Darum wird so gebissen gekämpft und an für die libysche
Bevölkerung unhaltbaren, brutalen Zuständen festgehalten. Für Europa sind die
Moslembrüder immer noch das kleinere Übel. Ein vereintes und die eigenen
Interessen vertretendes Libyen stünde den europäischen Belangen diametral
entgegen.
A. Gutsche
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen