Unblutige Machtübernahme in Tripolis: Moslembrüder gegen Moslembrüder
Libyen. Die sogenannte
‚Regierung der nationalen Aussöhnung‘ (National Salvation Government NSG) hat
unter der Führung von Khalifa Ghweil am 14. Oktober die Kontrolle über das
Hauptquartier des Staatsrats in Tripolis übernommen. Die vom Westen eingesetzte
‚Einheitsregierung‘ floh schon vorher mit ihrem Ministerpräsidenten Sarradsch
und dem Präsidialrat nach Tunesien.
Währenddessen spricht
JamahirijaNews von einer Farce: In Tripolis kämpfe die von den USA, Katar und
der Türkei unterstützte Moslembruderschaft gegen die von den USA, Katar und der
Türkei unterstützte Moslembruderschaft. Beide seien illegitime Regierungen und
mit der Miliz ‚Libya Fadschr‘ (Morgendämmerung) verbunden, die sich aus
al-Kaida- und LIFG-Extremisten (Libya Islamic Fighting Group) zusammensetzt.
Zum Verständnis der gegenwärtigen politischen Situation in
Libyen ist ein Rückblick unumgänglich. Zur Erinnerung: Bei den Parlamentswahlen
am 25. Juni 2014 hatte die daraus hervorgegangene Parlamentsmehrheit eine
Interimsregierung unter Premierminister Abdullah al-Theinni gewählt. Beide sind
immer noch im Amt, ebenso wie das gewählte, auch international anerkannte, nach
Tobruk geflohene Parlament (House of Representatives HoR). Ein anderes
Parlament oder eine andere legitimierte Regierung gibt es nicht, denn mit der
Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 21. Juli 2014 endete das Mandat des General
National Council (GNC), der vorher das Parlament gebildet hatte.
Allerdings hatte das Wahlergebnis, bei dem die
islamistischen Gruppierungen eine herbe Niederlage hinnehmen mussten, einigen
Staaten wie USA/Großbritannien/Frankreich/Katar/Saudi Arabien/Türkei nicht
gepasst, da sie ihre Interessen in einem souveränen Libyen nicht gewährleistet
sahen. Auch die Moslembrüder, al-Kaida und die anderen islamistischen Milizen,
die einen Hauptanteil am Sturz Gaddafis und der Dschamahirija hatten, sahen
sich um die Früchte ihrer Kämpfe betrogen, die – wie jetzt offiziell bekannt –
ausgefochten wurden mit Waffen, die sie von den USA via Katar bezogen hatten.
Eine Woche vor dem 21. Juli 2014, also bevor das
Wahlergebnis offiziell verkündet wurde, griff eine Koalition aus Islamisten und
regionalen Milizen zu den Waffen und startete in Tripolis eine bewaffnete
Operation mit dem Namen Libyscher Fadschr (Morgendämmerung). Nach wochenlangen
Straßenkämpfen gelang ihr am 23. August die Einnahme der Hauptstadt. Der
Fadschr rief unverzüglich den GNC dazu auf, seine Arbeit wieder aufzunehmen.
Tatsächlich bildete sich eine kleine Gruppe ehemaliger GNC-Abgeordneter und
ernannte Omar al-Hassi zum ‚Premierminister‘. Dieser GNC hatte keinerlei
Rechtfertigung für die Machtübernahme in Tripolis als reine Gewaltanwendung. Er
stellte nichts anderes dar als den politischen Arm der islamistischen
Fadschr-Milizen.
Doch nun begann überraschender Weise das große mediale
Umetikettieren der politischen Machthaber. Man sprach nicht mehr von einem aus
demokratischen Wahlen hervor gegangen Parlament, das von bewaffneten
islamistischen Milizen mit Gewalt in den Osten Libyens, zunächst nach Bengasi,
dann nach Tobruk, vertrieben worden war, sondern es gab plötzlich „zwei
Regierungen und zwei Parlamente“, die sich bekämpften.
Während der Öffentlichkeit vorgegaukelt wurde, einen
Aussöhnungsprozess in Gang bringen zu wollen, unterstützte der Westen weiterhin
die islamistischen Machthaber in Tripolis. Als offensichtlich wurde, dass diese
weder gewilligt noch fähig waren, das libysche Chaos in den Griff zu bekommen
und vor allem die Flüchtlingsfrage für die Europäer immer dringlicher wurde,
setzte der Westen mit Unterstützung der ‚internationalen Gemeinschaft‘ eine
sogenannte ‚Einheitsregierung‘ mit einem Ministerpräsidenten Sarradsch und
einen Präsidialrat ein. Die Ankunft dieser Totgeburt erfolgte in Tripolis am
30. März diesen Jahres.
Khalifa Gweil und große Teile seines GNC hatten die
‚Einheitsregierung‘ nie anerkannt. Kurz vor dem Eintreffen der
‚Einheitsregierung‘ und des ‚Präsidialrats‘ in Tripolis rief Gweil eine
‚Regierung der nationalen Aussöhnung‘ (National Salvation Government NSG) aus,
die vorgab, einen innerlibyschen Versöhnungsdialog anzustreben. Weite Teile der
Administration in der Hauptstadt blieb weiterhin unter der Kontrolle des
ehemaligen GNC, nun NSG.
Während es der Libyschen Nationalarmee im Osten des Landes
gelang, die dschihadistischen Kräfte so gut wie völlig zu verdrängen und mit
Hilfe der Stämme auch alle bedeutenden Erdölterminals von den ‚Patroleum
Facilities Guards‘ zurückzuerobern, vergrößerte sich in Tripolis das Chaos von
Tag zu Tag mehr. Das völlige Versagen der ‚Einheitsregierung‘ war
offensichtlich und ihre Abhängigkeit von dschihadistischen Milizen wurde nun zu
ihrem Verhängnis.
Milizen aus Mistrata, die sich stets der unumschränkten
Unterstützung der Türkei und anderer Islamisten freundlich gesinnter
Regierungen sicher sein konnten, hatten sich zur ‚Einheitsregierung‘ bekannt
und in Sirte den IS bekämpft. Sie sollten auch die ‚Einheitsregierung‘ in
Tripolis schützen. In letzter Zeit war es bereits wiederholt zu Kämpfen
zwischen islamistischen Milizen in Tripolis und jenen aus Misrata gekommen.
Am 14. Oktober stürmten Fadschr-Milizen des NSG nicht nur
das Konferenzzentrum in Tripolis, sondern übernahmen ohne auf nennenswerten
Widerstand zu stoßen, auch die Kontrolle über die Stadt. Ghweil rief den
Notstand aus und sich selber zum Führer einer, wie er es nannte, ‚historischen
Initiative zur Rettung Libyens‘. Ghweil hat in der Stadt wichtige Unterstützer,
so den ersten stellvertretenden Präsidenten des GNC, Awad Abdul Saddek, und Ali
Ramali, den ehemaligen Chef der Präsidialgarde, die ursprünglich dazu gebildet
worden war, die ‚Einheitsregierung‘ zu schützen. Auch der extremistische
Großmufti al-Ghariani steht hinter Ghweil. Den Präsidialrat erklärte Ghweil für
‚gefeuert‘.
Natürlich verurteilen die Vereinten Nationen, Martin Kobler,
die USA und die EU unverzüglich und einhellig das Vorgehen von Ghweil und
seines NSG. Sarradsch rief von Tunesien dazu auf, die Verschwörer unverzüglich
festzunehmen. Da die Verschwörer die Verschwörer sind, die die Verschwörer
festnehmen sollen, dürfte dieser Aufruf nicht wirklich große Wirkung haben. Die
von der Türkei, Katar und den USA aufgerüsteten Milizen der Moslembruderschaft,
von al-Kaida und des Libyschen Fadschr bestimmen, wer in Tripolis das Sagen
hat. Und sie haben die Seiten gewechselt. Ein Grund dafür könnte das Buhlen der
‚Einheitsregierung‘ um Generalfeldmarschall Hefter aufgrund seiner Erfolge im
Osten sein.
Ghweil hat sich auch schon an Theinni, den Premierminister
der Tobruk-Regierung, gewandt mit dem Angebot, eine gemeinsame Regierung zu
bilden. Eine Vorbedingung wäre, dass Ghweil das gewählte Tobruk-Parlament
anerkennt. Dies dürfte für Ghweil unmöglich sein. Und wie sollten jemals die
Libysche Nationalarmee unter Generalfeldmarschall Hefter mit den
Fadschr-Milizen von Tripolis und den Moslembrüdern von Misrata unter einen Hut
passen? Welche Rolle sollte dem Großen Rat der Stämme und Städte zukommen und
welche den Kräften der Dschamahirija? Ein sogenannter ‚Gefängnisdialog‘ ist
bereits als gescheitert zu betrachten, auch angesichts der brutalen Ermordung
politischer Gefangener und der fehlenden Bereitschaft, Gefangene frei zu lassen
und an ihre Familien zu übergeben.
Der Osten hat sich jetzt erst einmal in einer Beobachterrolle
eingerichtet und schaut zu, inwieweit sich die Islamisten selbst zerlegen.
Die deutschen
Wirtschaftsnachrichten: „Aktuell rivalisieren folgende Energiekonzerne in
Tripolis: ENI (Italien), Total SA (Frankreich), Repsol YPS (Spanien), Waha Oil
Co. (US-Joint Venture), BP (Großbritannien), Exxon Mobil (USA), Statoil
(Norwegen), Royal Dutch/Shell (Niederlande/Großbritannien), Gazprom (Russland),
RWE (Deutschland).“
Angelika Gutsche, 17.10.2016
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