Sirte oder die geheime Invasion des Westens
Libyen. Sirte, der IS
und militärische Einsätze des Westens in der Luft und auf dem Boden
Am 10. August 2016 meldete die Einsatzzentrale der
Misrata-Milizen, dass nun in Sirte das Ouagadougou-Konferenzzentrum, in dem der
IS sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, unter ihrer Kontrolle sei, ebenso
wie das Ibn-Sina-Krankenhaus und die Universität der Stadt. Die Misrata-Milizen
hätten bei den Einsätzen allerdings ein Kampfflugzeug verloren, das zweite in
diesem Monat. Einige Stadtviertel seien noch immer unter Kontrolle des IS.[1]
Da keine Augenzeugenberichte aus Sirte vorliegen, ist es
unklar, ob nur der IS, oder auch Mitglieder des Grünen Widerstands angegriffen
wurden, die mit der Libyschen Nationalarmee verbündet sind. Beide kämpfen
sowohl gegen den IS als auch gegen LIFG- und al-Kaida-Milizen. Es liegen
Berichte der Libyschen Nationalarmee vor, dass sich das militärische Vorgehen
in Sirte auch gegen drei ihrer Offiziere gerichtet habe, von denen zwei am 9.
August von Kräften der US-Einheitsregierung getötet worden seien.
Bereits am 8. August sind laut einer
US-AFRICOM-Verlautbarung weitere acht Luftschläge auf verschiedene Ziele in
Sirte von den USA geflogen worden, insgesamt erhöhte sich die Zahl der
Luftschläge damit auf 28. Weitere folgten am 9. Und 10. August 2016.
Die Küstenstadt Sirte befindet sich etwa in der Mitte
zwischen Tripolis und Bengasi, 180 Kilometer östlich von Misrata. Über das
Mittelmeer beträgt die Entfernung zu Europa gerade einmal 300 Kilometer. Sirte
ist eine wichtige Drehscheibe für die Ausfuhr des libyschen Erdöls.
Sirte, die Geburtsstadt Muammar al-Gaddafis, verfügt über
eine gute Infrastruktur. Gaddafi ließ auch das Ouagadougou-Konferenzzentrum
erbauen, in dem zahlreiche afrikanische und internationale Gipfeltreffen
stattfanden, und in dem am 9.9.1999 die Afrikanische Union AU gegründet wurde.
Die Stadt zählte vormals 120.000 Einwohner, seitdem der IS Sirte unter seine
Kontrolle gebracht hat, sind etwa 75 Prozent geflohen, weniger als 30.000
Menschen befinden sich noch in der Stadt, viele sind verschwunden. Die meisten
Einwohner Sirtes zählten zu einem der vier Regionalstämme, die loyal zur
früheren Dschamahirija-Regierung standen. Für ihre Treue zahlte Sirte einen
hohen Preis. Heute wird die Stadt von der ‚Einheitsregierung‘ marginalisiert
und sieht sich starken Repressalien ausgesetzt.
Der IS hatte im Juni 2015 Sirte eingenommen und sie zu
seiner wichtigsten Operationsbasis ausgebaut. In der Stadt erfolgte auch die
Ausbildung ausländischer Kämpfer, die Anschläge im Ausland verüben sollten. Der
IS unterwarf die Bewohner von Sirte einer Herrschaft des Schreckens. Angehörige
von Militär, Polizei und Justiz wurden ermordet. Erwachsene und auch
Jugendliche, die als Gaddafisten verdächtig wurden, erschoss man. Oder man warf
sie von hohen Gebäuden in den Tod, enthauptete sie oder kreuzigte sie an
öffentlichen Plätzen. Jeder noch verbliebene Einwohner wurde überwacht, Kinder
ihren Eltern entrissen und in IS-Trainingslager verschleppt, um sie zu radikalisieren
und zu IS-Kämpfern zu machen.
Trotz alledem gelang es dem IS nicht, den
Widerstandsgeist der Stadt zu brechen. Die Menschen feierten auf den Straßen
die al-Fatah-Revolution des Septembers 1969 und die damalige Machtübernahme
durch die Freien Offiziere. Immer wieder kam es zu Aufständen und es wurde die
‚Architecture Almrsos‘ zur Befreiung der Stadt ins Leben gerufen.
‚Architecture Almrsos‘ musste scheitern, als sich herausstellte, dass sich die
LIFG-Milizen (Libyan Islamic Fighting Group), die heute im Dienst der
‚Einheitsregierung‘ stehen, und die IS-Kämpfer nicht wesentlich voneinander
unterscheiden: Beide stehen im Dienst westlicher Imperien.
Der IS verübte mehrere Angriffe mit schwerer Artillerie und
Raketenbeschuss gegen die südwestlich von Sirte stationierte ‚Architecture
Almrsos‘, die schwere Verluste erlitt, vor allem Misrata-Milizen hatten viele
Tote und Verwundete zu beklagen. Währenddessen erklärte der von den Vereinten
Nationen und den USA gestützte Präsidialrat, dass seine LIFG-Milizen unfähig
seien, den IS in Sirte zu bekämpfen und baten die USA um Hilfe in Form von
Luftschlägen. Die Agenda ging auf: Unter Verschleierung der wahren Absicht,
nämlich die koloniale Besetzung Libyens voranzubringen, starteten die USA die
Luftangriffe auf Sirte.
JamahiriyaNewsAgency
betont in einer Stellungnahme, dass sich der Zorn der Menschen angesichts der
ausländischen Intervention nicht mehr besänftigten lässt. Die militärische
Intervention richte sich gegen die Bemühungen, das Land wieder zu vereinen und
die Libysche Nationalarmee als einzige legitime Armee einzusetzen und in ihrem
Kampf gegen Terrorismus und neokoloniale Besatzung zu unterstützen
Die Marionettenregierung um Sarradsch, die der NATO einen
Blankoscheck für die Invasion Libyens ausgestellt hat, sei nicht legal an die
Macht gekommen, sondern sei von den USA und den Vereinten Nationen gegen den
Willen des libyschen Volkes installiert worden. Während nun die Milizen dieser
Regierung , die vor allem aus LIFG- und al-Kaida-Milizen besteht, mit Waffen
und Geldern versorgt werden, muss die legal gewählte Tobruk-Regierung immer noch um die Aufhebung des
UN-Waffenembargos betteln, das gegen die Libysche Nationalarmee verhängt wurde,
und dies obwohl die Libysche Nationalarmee die einzige wirksame Kraft beim
Kampf gegen den Terrorismus in Libyen ist und tatsächlich in der Lage wäre, den
IS zu besiegen.
Das Ziel der USA und der NATO sei es niemals gewesen, den
von ihnen erschaffenen und an ihrer Stelle kämpfenden IS zu vernichten, sondern
das wahre Ziel sei es, alle Widerstandsbewegungen zu vernichten, die ihrem
Versuch, Libyen zu besetzen und zu kontrollieren, im Weg stehen.
JamahiriyaNewsAgency
hält die offizielle, durch die NATO abgesegnete Berichterstattung über die
Kämpfe in Sirte für falsch. Für den Einsatz der US-Streitkräfte in Libyen ist
CENTCOM[2]
verantwortlich. Wäre deren Behauptung richtig, dass es CENTCOM gelingt, die
Bedrohung durch den IS zu verringern, könnten die USA daraus die offizielle
Schlussfolgerung ziehen, dass die ausländischen Interventionen ausgeweitet
werden müssten.
Allerdings berichtet die US-Zeitung ‚The Daily Beast‘[3], wie
ein führender CENTCOM-General seine Geheimdienstanalysten zwang,
Geheimdienstberichte zu manipulierten. Auch vor den Kongress geladene Zeugen
wurden unter Druck gesetzt, um einen positiveren Eindruck über den Krieg gegen
den IS vorzugaukeln. Dies fand eine Untersuchungskommission des US-Kongresses
heraus, die demnächst mit einem 10-Seiten-Bericht an die Öffentlichkeit treten
will. Mehr als 50 Analysten hatten eine offizielle Beschwerde eingereicht, weil
ihre Berichte über den IS und al-Kaida in Syrien von höhergestellten Beamten
abgeändert worden waren. Das Arbeitsklima sei vergiftet gewesen und sie seien
genötigt worden, Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich aus den vorliegenden
Fakten nicht ergeben hätten. Es wird berichtet, dass die für die Fälschungen
verantwortlichen Generäle bei CENTCOM die entsprechenden Emails und Ordner vor
Einsichtnahme durch die Untersuchungskommission auf ihren Rechnern gelöscht hätten.
Nun stellt sich die Frage, warum die Berichte geschönt wurden und auf wessen
Veranlassung. Waren es die Generäle oder geht die Befehlskette noch weiter nach
oben? Der Ruf nach einer ‚ungeschminkten‘ Wahrheit wird immer lauter.
Doch in Libyen geht es nicht nur um US-Luftschläge gegen den
IS, sondern auch um den Einsatz von Bodentruppen. Wie Sputnik[4]
berichtet, unterstützen US-Einsatzkräfte am Boden die lokalen Milizen, die bei
Sirte kämpfen. Die USA leugnen allerdings weiterhin diese Einsätze, obwohl wiederholt
berichtet wurde, US-Soldaten seien in Sirte gesichtet worden, erkenntlich an
ihrer Bekleidung und ihrer Ausrüstung. Und der Libyenexperte des Europäischen
Rats für auswärtige Angelegenheiten sagte: „Solange sie dieses ‚low profile‘
behalten… bleibt auch das Risiko sowohl für die USA als auch für die libysche
Regierung gering (low).“
Die US-Spezialeinheiten operieren in einem sogenannten ‚low
visibility mode‘ (kaum sichtbaren Modus), damit sie nicht als die erneute
westliche Intervention kenntlich werden, die sie tatsächlich sind, denn der
Einfall von ausländischem Militär in Libyen, insbesondere des Westens, ist bei
der Bevölkerung höchst unbeliebt und gefährdet die schwache
Sarradsch-Regierung. Dabei ist die offizielle Lesart des Westens, diese Sarradsch-‚Einheits-‘Regierung
solle gerade durch den Einsatz der US-Militärs gestützt werden. Dies ist
natürlich richtig, geht man davon aus, dass Sarradsch nur mit US-Militärhilfe
an der Macht gehalten werden kann.
Doch nicht nur die USA sind mit „boots on the ground“ in
Libyen vertreten. Dies kam bei einem Hubschrauberabsturz ans Licht, bei dem
auch drei Franzosen ums Leben kamen und so offensichtlich wurde, dass sich auch
französisches Militär in Libyen im Einsatz befindet.
Laut der italienischen Zeitung Corriere della Sera dankte Sarradsch, Premierminister der
‚Einheitsregierung‘, Italien dafür, dass es den Amerikanern erlaubt hätte, die
Luftwaffenbasis Sigonella auf Sizilien für die Angriffe in Sirte zu benutzen.
Weitere militärische Hilfe werde von Italien nicht benötigt.[5]
Allerdings berichten italienische Zeitungen und auch die Daily Mail[6],
dass der italienische Premier Matteo Renzo unter starken Beschuss geraten sei,
da er ohne Zustimmung des Parlaments Spezialeinheiten nach Libyen entsandt
hätte.
Und natürlich darf der Vierte im Bund nicht fehlen. So
berichtet die Washington Post[7]
neben der Sunday Mill vom Auftauchen
nicht nur amerikanischer, sondern auch britischer Spezialeinheiten nahe der
Frontlinie in Sirte. Ebenfalls finden sich Fotos im Netz, die zeigen, wie
britische Soldaten IS-Kämpfer festnehmen. Das offizielle britische Statement
lautet dagegen: London konzentriere sich auf die Ausbildung libyscher Einheiten
und habe nicht vor, Bodentruppen ins Land zu schicken.
Entgegen der offiziellen Stellungnahmen sind sie also
alle wieder da: US-Amerikaner, Briten, Franzosen und Italiener! Sie bomben und
sie haben ‚boots on the ground‘ – gerufen von einer nicht-legitimierten
‚Einheitsregierung‘, ohne UN-Mandat und ohne die Zustimmung der eigenen nationalen
Parlamente. Sie führen einen gespenstischen Krieg, den es offiziell gar nicht
gibt. Und den führen sie bestimmt nicht gegen den IS, dem sie selbst den Boden
bereitet haben, sondern gegen die Kräfte, die für ein souveränes und einiges
Libyen stehen.
Angelika Gutsche
13.08.2016
[2]
CENTCOM United States Central Command (Zentralkommando der Vereinigten Staaten)
ist eines von sechs Regionalkommandozentren der US-Streitkräfte und steht unter
der Kontrolle des US-Verteidigungsministeriums
[3] www.thedailybeast.com/articles/2016/08/11/republicans-and-democrats-agree-centcom-cooked-isis-war-intel.html
[4]
http://m.sputniknews.com/middleeast/2016/0811/1044146789/us-forces-ground-libya.html
[5]
http://www.corriere.it/english/16_agosto_10/libyan-pm-is-also-danger-for-italy-help-us-now-c5ba5010-5ef6-11e6-bfed-33aa6b5e1635.shtml
[6]
www.dailymail.co.uk/wires/afp/article-3734503/Renzi-fire-special-forces-Libya.html
[7]
www.washingtonpost.com/news/checkpoint/wp/2016/08/09/u-s-special -operations-forces-are-providing-direct-on-the-ground-support-for-the-first-time-in-libya/
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